Unbestechlichkeit und Liebe

Ich habe recht viele polnische Bekannte. Im Augenblick begegnen mir daher in den sozialen Netzwerken viele empörte Stimmen zu dem für verfassungswidrig erklärten polnischen Gesetz, das Abtreibung u.a. wegen Fötusschäden als erlaubt vorgesehen hatte.

Mir fällt in dieser Debatte etwas auf, das auch die amerikanische Diskussion bestimmt, und was ich für sehr schädlich und für uns Christen für gefährlich halte: Abtreibung wird politisch instrumentalisiert. Dass die Linke das tut, ist dabei wenig erstaunlich. Es ist zwar ärgerlich, dass sie das, was Frauen endgültig einem System unterwirft, das auf den egoistischen Mann konzentriert ist, als „Empowerment“ propagiert, und natürlich ist das mit der Menschenwürde nicht vereinbar, weder mit der des ungeborenen Kindes noch mit der Würde der Mutter. Schlimmer aber ist, wenn Rechtspopulisten dieses Thema instrumentalisieren und das Christentum in Geiselhaft nehmen für eine Politik, die ansonsten keinesfalls konsequent christlich ist.

Was meine ich konkret? Eine konsequent christliche Politik müsste mit derselben Verve, mit der Abtreibung erschwert wird, das Wohl der Mütter in den Fokus stellen. Und das wäre durchaus unschwer messbar, auch gegen jede linke Propaganda: Psychologische und medizinische Hilfe müsste thematisiert und ausgebaut werden, man müsste (und könnte) die Frauen mit Geld überschütten, wie man das bei einem wichtigen Wirtschaftsfaktor unbesehen tut, genauso müsste das Mitgefühl mit Frauen breitesten Raum einnehmen: Ein schwerstbehindertes Kind austragen zu müssen, ist natürlich eine große Last – die aber eben nur durch die Last der Abtreibung ersetzt wird. Die radikale Linke kann deshalb so viele an sich Abtreibung gegenüber latent kritische Menschen letztlich für ihre Pro-Abtreibungs-Position gewinnen, weil sie es schafft, zu vermitteln, dass das Mitgefühl automatisch zur Akzeptanz von Abtreibung führen müsse. Das kann nur gelingen, weil politischer Lebensschutz sich eben zu wenig durch Mitgefühl für die Mütter auszeichnet und definiert. Das gilt zwar überhaupt nicht für die praktischen Initiativen, die ja nicht an der Mutter vorbei helfen können, aber diese werden eben von „Pro-life-Politik“ nicht genügend in den Fokus gerückt, weil es Rechtspopulisten eben gar nicht darum geht, frauenfreundliche Gesellschaften zu schaffen.

Für den Christen entsteht hier ein scheinbares Dilemma: Ich höre oft von Pro-Lifern, dass doch am Ende am wichtigsten sei, dass die Politik durch ihr Handeln de facto Kinderleben rette, ganz egal, ob Kaczynski nun ein Menschenfreund und Trump ein Frauenfreund sei oder nicht. Ich halte diese Einstellung für fatal, wenn sie dann in der zwangsläufigen politischen Unterstützung mündet.

Mit diesem Statement lehne ich mich sehr weit aus dem Fenster und werfe mich mit Schwung zwischen die Stühle. Also muss es dafür eine gute Erklärung geben. Ich biete mehrere an:

  1. Langfristigkeit

Lebensschutz kann am Ende nur funktionieren, wenn eine Gesellschaft dahintersteht. Schauen wir auf Polen und Südamerika, dann sieht man, dass gerade ursprünglich traditionell katholische Gesellschaften einem starken „Reform“druck ausgesetzt sind. Noch kann man sich behaupten, aber wie lange noch? Wer sich mit rechtspopulistischen Kräften einlässt, der nimmt das Risiko in Kauf, von einem gewaltigen Backlash am Ende weggefegt zu werden. Man schaue sich die spanische Gesellschaft an, die zerrissen ist zwischen selbstbewusstem katholischem Selbstverständnis und aggressivstem Atheismus. Die Verquickung mit dem Franco-Regime ist eine fatale Last für die Kirche. Schauen wir auf die Geburtenrate in Italien, dem katholischen Land schlechthin. Und bei aller Liebe zu den Polen, deren katholisches Selbstverständnis ich natürlich schätze und bewundere: Ich kenne einfach zu viele junge, intelligente Frauen, die sich von dem Glauben ihres Volkes abgewandt haben, weil er nie tiefer vermittelt wurde. Ich kenne zu viele junge Polinnen, deren Einstellung zum Glauben so ist, wie die verbitterter alter Maria 2.0erinnen: Sie halten ihn für knechtend, für bitter, für lebensfeindlich. Und unter gläubigen Polen finde ich zu wenige mit reflektiertem Glauben, der außer „#isso“ auch belastbare Erklärungen in petto hätte. Das sage ich jetzt sehr pauschal, aber ja nicht absolut. Es ist ein Ausschnitt aus dem, was mir begegnet. Diese Mischung ist gefährlich, denn wer soll denn die nächsten Generationen eines geschlossen katholischen polnischen Volkes erziehen? Hier einen politischen Kompromiss einzugehen mit Kräften, die einen christlichen Inhalt als Feigenblatt benutzen, ist auf Dauer glaubensschädigend – wobei ich selbst einwende, dass ich gerade in Polen mehr echtes katholisches Engagement verorte, als genuin christliches in den USA: Trump ist definitiv kein Lebensschützer, sondern Opportunist. Und warum gerade in Polen der Glaube viel mit Politik zu tun hat, ist aus der Geschichte klar ersichtlich. Aber man sollte sich der problematischen Dimension bewusst sein, denke ich.

2. Glaubwürdigkeit

Dies führt zur Frage nach der Authentizität unseres Glaubens. Das Christentum hat den hohen Anspruch, im Wirrwarr der gefallenen Welt die Wahrheit unverkürzt zu verkünden. Das gilt auch für den Lebensschutz. Die Liebe zum ungeborenen Kind lässt sich nicht herauslösen aus der Nächstenliebe. Und diese gilt auch der Mutter, der radikalen Feministin, dem Homosexuellen und dem Nichtkatholiken.

3. Effektivität

Wenn Lebensschutz als Ausweis einer Parteilinie gilt, dann macht man ihn unzugänglich für viele, die diese Parteilinie in anderen Dingen nicht mittragen. Wir tragen dann selbst zu einem „branding“ bei, das Lebensschutz z.B. in eine rechte Ecke schiebt. Lebensschutz geht aber alle an. Im Grunde müsste er sogar ureigentliches Anliegen der Linken sein: Allein schon wegen der oft rassistischen oder mädchenfeindlichen Indikation von Abtreibung, weil sie gegen Behinderte gerichtet ist etc. Wie aber soll man das deutlich machen, wenn man zulässt, dass er zum politischen Aushängeschild gemacht wird?

Nun aber zur entscheidenden Frage: Wie kann man als Christ zum Lebensschutz stehen, ohne sich für eine politische Richtung benutzen zu lassen?

Ich habe dazu eine wahrscheinlich unter Lebensschützern unpopuläre Meinung: Ich bin davon überzeugt, dass wir unser Wahlverhalten nicht von der Position zum Lebensschutz abhängig machen dürfen, jedenfalls nicht in einer ausschließlichen Weise. Wir dürfen nicht zulassen, dass wir willige Wahlschafe sind für jeden, der uns Kampf gegen Abtreibung verspricht. In Polen, Südamerika und den USA sind Abtreibungsgegner eine wichtige Wählergruppe. Wieso nutzen sie diese Bedeutung nicht, um den Druck in Richtung Frauenfreundlichkeit zu erhöhen? Wie gesagt, die von ihnen unterstützten Initiativen machen es ja richtig. Wieso nicht von der Politik entsprechendes Vorgehen einfordern? Ich habe dazu übrigens auch ein Extrembeispiel: Ich habe in einem Ort gelebt, in dem, weil die Wählerschaft traditionell kinderfreundlich und behindertenfreundlich ist, selbst die NPD mit den Bildern von Ungeborenen Wahlkampf gemacht hat. Das muss man sich schon auf der Zunge zergehen lassen!

Zudem müssen wir in eine (natürlich authentische) „Charmoffensive“ gehen. Es ist meiner Erfahrung nach so, dass sehr viele, insbesondere jüngere Menschen, die sich als Pro-Choice einordnen, keinesfalls „klassische“ Abtreibungsbefürworter sind. Sie glauben aber einer Propaganda, die zum einen erzählt, die Liebe zur Frau mache Abtreibung notwendig, und zum andern, bei Pro-Lifern sei die Liebe zur Frau nicht vorhanden. Nun ist mir völlig klar, dass diese Propaganda schwer zu durchbrechen ist. Aber man muss dann eben massiv das Gegenteil beweisen. Jeder Facebook-Kommentar, der Abtreibung als Mord tituliert und das Leid der Frau barsch verwirft, ist ein Bärendienst am Leben, ganz egal, wie rechtschaffen man sich danach fühlt. Und als Freundin von Initiativen wie 1000plus und dem Marsch für das Leben tut mir das Herz weh, wenn der liebevolle, hingebungsvolle Einsatz der Beraterinnen und Helfer konterkariert wird.

Das Tragische an dieser Haltung ist, dass wir uns im Lebensschutz für unbestechlich halten: Wir wollen ohne Kompromisse die Wahrheit vertreten. Genau das macht uns aber bestechlich, wenn wir dafür in Kauf nehmen, dass andere wichtige christliche Werte mit den Füßen getreten werden. Ich finde nicht, dass wir uns der Verzerrung unseres Glaubens beugen müssen.

Zugleich riskieren wir, dass sich die Haltung „Ich mag Abtreibung nicht, aber ich muss sie hinnehmen“, als Mittelposition auch in christlichen Kreisen festsetzt. Dies ist zum Teil schon der Fall. Diese Haltung ist aber eine, die der Liebe misstraut: Sie argwöhnt, dass die Ablehnung der Sünde doch irgendwie eine Ablehnung der Sünder wäre, weshalb sie nicht konsequent Ablehnung der Sünde und Liebe für den Sünder zugleich vertritt. Man kann aber, nein, man muss konsequent beides vertreten. Diese scheinbar vermittelnde Haltung ist extrem schädlich, weil sie dem Schmerz, unverstanden zu sein, ausweichen will, indem sie es versäumt, in Geduld den Zusammenhang von Liebe und Leid zu vermitteln und dafür einzustehen. Sie verkauft ein Ausweichen vor dem konsequenten Mitleid als Mitleid, behauptet zugleich, nicht mitleiden zu können: Es sei ja das Leid der Anderen, konkret der Frau. Es ist in einer sich weiter säkularisierenden Gesellschaft aber nur um den Preis des eigenen Mitleidens möglich, den Menschen zu vermitteln, dass sie in vielen Fällen Leid nur verschieben, nicht aufheben können. Wieso setzen wir nicht an dieser Stelle an? Viele Menschen wollen Abtreibung ermöglichen, weil sie gut sein wollen, aber gefangen sind in einer Wahrnehmung, die den Leid annehmenden Charakter der Liebe nicht wahrhaben will. Dies wird aber nicht sichtbar, wenn sich die christliche Caritas auf politischer Ebene mit der Verhinderung von Abtreibung zufrieden gibt.

Nachtrag: Die Situation in Deutschland ist natürlich eine andere. Aber wir dürfen uns keinen Illusionen hingeben: Die letzten Zeugen für den hohen Stellenwert des menschlichen Lebens, den das Grundgesetz im Rückblick auf den Nationalsozialismus verankert hat, sterben, und es ist weithin nicht vermittelbar, was „lebensunwertes Leben“ mit Abtreibung zu tun hat. Deshalb ist es umso wichtiger, in unbestechlicher Liebe für das Leben zu werben.