Sicut Aquila – Ein Gott, der für uns sorgt

Vielleicht liegt es an den gegenwärtigen Einschränkungen, aber im Augenblick denke ich viel über Freiheit nach. Was bedeutet Freiheit, wie macht sich echte Freiheit bemerkbar, wie kann ich Freiheit kultivieren? Beim Nachdenken habe ich festgestellt, dass ich Gott von klein auf als Gott der Freiheit wahrgenommen habe. Ich weiß noch sehr gut, dass z.B. der Exodus von Anfang an zu meinen absoluten Lieblingsgeschichten gehörte. Auf den Exodus bzw. auf die Führung des Volkes Israel durch den Herrn bezieht sich einer meiner Lieblingsverse der Heiligen Schrift, den ich noch gar nicht so lange kenne.

Wenn man Stundengebet betet, dann gibt es immer wieder Verse, die einen besonders packen, die einen irgendwie hinausschleudern in die Weite Gottes. Dieser Vers war mir beim Lesen der Bibel nie aufgefallen, bis ich begann, das Stundengebet in der überlieferten Form und auf Latein zu beten. In den Laudes des Samstags für Advent, Vorfasten- und Fastenzeit heißt es im alttestamentlichen Canticum über den HERRN:

Sicut aquila provocans ad volandum pullos suos, et super eos volitans, expandit alas suas, et assumpsit eum, atque portavit in humeris suis. (5. Mose 32,11, Vulgata)

Wie ein Adler, seine Jungen zum Flug herausfordernd und über ihnen schwebend, seine Schwingen ausbreitet und sie aufnimmt und auf seinen Schwingen trägt.

Ich finde diesen Vers ungemein berührend und reich. Da ist einmal der Adler – unserem Empfinden nach jetzt nicht gerade das gelungenste Bild für Fürsorge, wie es eine fluffige Glucke wäre, sondern ein scharfäugiges, machtvolles Raubtier. Gottes Majestät und Allmacht, seine Allwissenheit, seine Gerechtigkeit können einschüchternd und gefährlich wirken. Ja, viele Menschen halten Gott für grausam, auch so mancher Gläubige meint dies insgeheim: Wir missverstehen schnell Gottes losgelöste Perspektive, weil sie über unser beschränktes Sichtfeld so weit hinausreicht. Wir denken dann, unser Schicksal berühre ihn nicht, so wie auch ein Kind das Verhalten seiner Eltern oft nicht einschätzen kann und diese für grausam unbeweglich hält – und ihre Entscheidungen vielleicht erst Jahrzehnte später zu schätzen wissen wird. Gott stellt diese seine Eigenschaften aber in unseren Dienst, weil er die Liebe ist: Seine Allwissenheit fügt unser Leben, sein „Adlerauge“ sieht, wo wir in Gefahr geraten, seine Majestät garantiert uns Schutz – aber keinesfalls soll seine Allmacht uns versklaven: Und hier beginnt diese wunderbare Weite, die dieser Vers ausstrahlt: Ein Adler, der seine Jungen dazu anregt, ermutigt, ermuntert – „provoziert“ – ihre ungeübten Flügelchen auszubreiten und loszufliegen, und zu diesem Zweck dicht über ihnen flattert, der ihnen den Weg in die Freiheit zeigt, und der doch im rechten Moment da ist, um zu retten, sollte der Versuch misslingen, oder sollten sie von ihren ersten Flugversuchen erschöpft sein. Gott „erzieht“, aber er erzieht zur Freiheit: Er möchte, dass wir seine Weite teilen, dass wir fliegen lernen mit den Flügeln, die uns der Glaube gibt: Wir sollen und dürfen lernen, gütig zu sein, zu vergeben, Leid zu tragen, zu dienen, aber auch, uns wahrhaft zu freuen.

Ich habe im Frühling die Flugversuche einer jungen Meise beobachten können – weit entfernt von einem Adler, aber es war unheimlich anrührend, wie die Eltern ein Ästlein weiterflogen und tschirpten und tschirpten, bis das kleine Federknäuel ansetzte – und – sich doch nicht traute. Also noch einmal und noch einmal, bis es endlich Mut gefasst hatte und mit Ach und Krach ein Stückchen weiterflog – oder eher plumpste. Dabei musste ich an den Vers aus dem Deuteronomium denken, und daran, wie liebevoll unermüdlich uns Gott antschirpt, bis wir uns endlich trauen, aus unserem irdischen Nest ein bisschen himmlische Weite zu kosten. Und dass wir bei den ersten Flugversuchen in Sachen Gnade auch nicht unbedingt die beste Figur machen.

Ich finde es auch interessant, dass das Fliegen als Vergleich gewählt wird. Fliegen ist ja mit motorischer Anstrengung verbunden. Es ist erstaunlich (und dann doch wieder nicht, weil die heilige Schrift immer so ist), dass hier so zwanglos realitätsnah ein Aspekt unserer Gottesbeziehung beschrieben wird. Auch gläubige Menschen wirken manchmal nach außen so, dass ihnen alles leicht von der Hand geht, während sie im Innern viele Kämpfe und Mühen auszustehen haben. Und es kommen die Momente, in denen man „glaubensmotorisch“ nicht mehr kann. Und da flattert Gott über uns um uns aufzunehmen. Zwischendurch, zuweilen vielleicht auch erst am Ende des Lebens, aber er ist da und lässt uns nicht abstürzen.

Diese unfassbare Spannung zwischen Gottes Fürsorge und Nähe und der unendlichen Weite, die seine Nähe bedeutet; die Sicherheit, die er uns gibt, aber die er uns eben auch „provozierend“ nimmt, um uns weiterzuführen. Die ganze väterliche, mütterliche, lebendige Liebe, mit der Gott uns betrachtet, lenkt, begleitet und schützt, steckt in diesem kleinen Vers.

Für mich ist dieser Vers wie eine Umarmung. Braucht man ja in diesen Zeiten auch sehr dringend.