Ist Wahrheit nur eine Frage des Prinzips? – Gedanken (nicht nur) zur Ökumene

Im ökumenischen Dialog und fast noch mehr im innerkirchlichen Gespräch über die Ökumene mache ich häufig die Erfahrung, dass klare Worte und Positionen nicht geschätzt werden: Was soll Prinzipienreiterei, wenn es doch um freundliches Miteinander geht? Da muss man doch einfach mal Fünfe gerade sein lassen! „Es geht aber doch um Wahrheit“, höre ich mich einwenden, um sofort in die Ecke gedrängt zu werden: Diese Wahrheit, also wirklich: Erstens kann niemand wissen, was Wahrheit ist (bzw. „Es gibt nicht nur eine Wahrheit“). Zweitens ist das doch nur Theorie, Philosophie, das hat doch mit dem Leben nichts zu tun.

Vielleicht. Aber Wahrheit hat sehr viel mit Liebe zu tun. Die unterschwellige Annahme, wenn es um Wahrheit ginge, ginge es hart, gnadenlos und kompromisslos zu, hat natürlich Wurzeln in der Realität. Oftmals benutzen wir „die Wahrheit“ als Rechtfertigung dafür, uns nicht darum zu kümmern, wie es dem anderen mit dem, was wir zu sagen haben, geht. In Deutschland haben wir auch historisch viel zu tun mit dieser Art von Wahrheit: Wenn etwa Menschen ihre Stasi-Akten einsehen, dann bekommen sie Einblick in eine grausame, harte Wahrheit über ihre Mitmenschen – und man muss stark sein, um sich nicht unter Umständen zu wünschen, im Unklaren geblieben zu sein.*

Mit der Wahrheit Gottes ist es nicht so. Sie ist niemals grausam. Aber sie ist dazu da um uns zu wandeln. Und das ist ein schmerzhafter Prozess. Sie tut das nämlich sowieso früher oder später. Wir können das nicht verhindern. Aber wir können uns dagegen wehren, ihr gegenüber starr und unnachgiebig bleiben, und je weniger wir ihr Zugang zu uns erlauben, desto „grausamer“ empfinden wir diese Wahrheit.

So, jetzt bin ich in eine geistliche Ecke abgebogen, in die ich gar nicht wollte, ich lasse es aber trotzdem einfach mal stehen, weil es medium deep ist und dem ein oder anderen vielleicht hilft.

Eigentlich ging es mir um den Aspekt der „nur theoretischen“ Natur der Frage nach Wahrheit. Dies ist nämlich ein Totschlagargument: Es geht doch um das gemeinsame Wohl, da brauchen wir uns doch nicht mit komplizierten theologischen Fragen zu beschäftigen, die eh keine Relevanz haben.

Diesem Satz würde ich sofort zustimmen: Fragen, die keine Relevanz haben, brauchen wir nicht zu diskutieren. Leider hat aber die Frage nach Wahrheit nicht bloß theoretisch-abgehobenen Charakter, sondern vielmehr einen drängend aktuellen, praktischen. Sie bestimmt ganz konkret, wie Menschen ihr Leben angehen, wie sie mit Problemen umgehen und manchmal auch, welche Probleme sie überhaupt haben. Wenn mir am Wohl meiner Mitmenschen gelegen ist, kann ich ihnen also die Wahrheit dort, wo mir Verständnis geschenkt ist, nicht vorenthalten. Es ist vielmehr meine Aufgabe, sie den Menschen dann zu vermitteln, denn Gott gibt eine Erkenntnis oder ein Charisma niemals, damit die Person, die sie empfangen hat, sich darin suhlt, darin gefällt, oder sich als besser empfindet als andere: Jede Gnadengabe Gottes ist immer auch zum Dienst an anderen gegeben.

Ich kenne z.B. einen wirklich bewundernswerten Christen aus einem nichtchristlichen Kulturkreis, der sich grämt, weil nahe Verwandte, die gestorben sind, das Christentum nicht wie der Rest der Familie angenommen haben. Als evangelischer Christ, der den Glauben ernst nimmt, muss er davon ausgehen, dass, wer „Christus nicht angenommen“ hat, verdammt sein müsse. Würde ich nun nach der Grundregel katholischer Ökumeniker vorgehen, müsste ich sagen: „Naja. Also, vor dem Hintergrund seiner kulturellen Prägung und seiner Konfession ist das halt eine nachvollziehbare Haltung. Ich will ihn da jetzt nicht mit katholischer Lehre konfrontieren (die ist ja so theoretisch), denn jeder hat ja seine Perspektive.“ Wäre das irgendwie tröstlich, liebevoll? Überhaupt nicht. Statt dessen bietet die katholische Kirche hier Wahrheit gegenüber einer Irrlehre: Sie weist erstens darauf hin, dass es verschiedene Formen der Annahme gibt, dass zweitens der persönliche Raum zwischen Gott und der einzelnen Seele niemand anderem zugänglich ist (schon tragisch, dass ausgerechnet Protestanten das vergessen, die doch eigentlich der katholischen Kirche immer vorwerfen, sie leide an einem Mangel an persönlicher Gottesbegegnung), dass zudem Nichtannahme nicht immer schuldhaft ist, kurz, es gibt keinen Grund, nicht dennoch Hoffnung für die verstorbenen Nichtchristen zu hegen.

Der katholische Glaube erlaubt solche Aussagen, ohne die Heilsnotwendigkeit der Kirche, der Annahme Christi und seines Erlösungshandelns verwässern zu müssen, allein durch eine genaue Analyse der Sachverhalte: Was bedeutet „Annahme“ überhaupt? Warum müssen wir Christus annehmen? Was ist aber Voraussetzung für mündige Annahme? Kann jemand annehmen, der nicht erkennt? Und ist Nichterkennen immer Sünde? Die Kirche untersucht diese Fragen gründlich. Das mag dann oberflächlich wahnsinnig theoretisch aussehen, am Ende aber kommt sie dadurch zu Aussagen, die den Mensch trösten, Zuversicht und Hoffnung geben statt Angst, Verzagtheit oder gar innerer Ablehnung Gottes, weil man diesen Gott als ungerecht oder grausam empfinden muss.

Protestanten, die sich katholischer Lehre nicht anschließen wollen, müssen dagegen entweder darauf beharren, dass der Mensch auch durch nicht selbst verschuldetes Unterlassen verloren gehen könne – was für ein Druck auch für Bekehrte, ihre Freunde, Familie und Lieben unbedingt überzeugen zu müssen, was für eine Gewissensnot, wenn es nicht gelingt! Oder sie wenden sich von einem folgerichtigen Gottesbild komplett ab, behaupten Allerlösung und leugnen damit dann die Freiheit des Menschen (und das Zeugnis der Schrift) komplett, um nur nicht vor dem Dilemma stehen zu müssen, dass Gott so grausam unfair sein könnte. Die Grausamkeit liegt aber eben nicht in Gott, sondern in einem falschen Gottesbild. Die ach so theoretische Wahrheit hat also konkrete Auswirkungen auf das seelische Wohl eines Menschen.

Für solche Zusammenhänge lassen sich viele andere Beispiele finden: Wird ein Kind getauft oder nicht? Kann eine Ehe geschieden werden, ein Kind abgetrieben werden, kann man durch viele schnell wechselnde Sexualkontakte das eigene Liebesbedürfnis stillen, die Leere in der Seele füllen? Natürlich kann man einfache Antworten suchen, die das Leben scheinbar erleichtern. Aber was, wenn ein Mensch dann irgendwann völlig beziehungsunfähig geworden ist, aufgefressen wird von Schuldgefühlen, weil er erkennen muss, dass manche Sachen eben wirklich nicht rückgängig zu machen sind, oder wenn man dann nach der Scheidung erkennt, dass sich das in Kindern verwirklichte Eheband gar nicht wirklich auflösen lässt, dass man auch ohne sakramentales Eheverständnis irgendwie aufeinander bezogen bleibt? Wohl dem, der dann reif und überlegt damit umgehen kann und in ein versöhntes Nebeneinander findet. Bloß: Was ist mit denen, die das nicht schaffen? Wäre es nicht besser, gleich ein Korrektiv zu haben, das solche Scheinlösungen enttarnt?

Wahrheit und Liebe sind eins. Deshalb ist sie nicht kalt und abgehoben, sondern mit unserem Leben innig verbunden. Wenn wir wirklich glauben, Christen zu sein, brauchen wir die Auseinandersetzung nicht zu scheuen: Weder müssen wir uns fürchten, uns zu ändern, da wo unsere Haltung nicht der Wahrheit entsprach, denn wir wissen, wir sind dazu berufen, in Christus zu sein, der die Wahrheit ist. Wir brauchen auch nicht zu fürchten, dass Gott uns die Wahrheit vorenthält, wenn wir wirklich danach forschen wollen.

Ich habe häufig das Gefühl, dass im ökumenischen Gespräch die neugierige, beherzte Gewissheit fehlt: Viele Menschen scheinen sich davor zu fürchten, in die Tiefen des Glaubens abzutauchen, vielleicht auch weil sie ahnen, dass das unverbindliche, oberflächliche „Wohlwollen“ gegenüber dem Anderen, das der echten Auseinandersetzung aus dem Weg geht, der Wahrheit nicht standhalten wird.

Heiliger Thomas von Aquin, bitte für uns! Heiliger Karl Borromäus, bitte für uns!

*Ich erinnere mich manchmal an eine Sendung über die Gauck-Behörde. Gauck wurde interviewt und hielt „die Wahrheit“ als wichtigste Instanz hoch. Zugleich wurde das Schicksal einer vom eigenen Vater bespitzelten Frau thematisiert. Ihr Vater war bereits gestorben, und sie litt nun unter „der Wahrheit“, die ihr die Akten vermittelten. Die abgehobene Haltung von Gaucks Äußerungen hat mich damals schon wütend gemacht, weil das, was in den Akten steht, natürlich nicht „die Wahrheit“ ist, sondern nur ein kleiner Ausschnitt: Niemand kann mehr herausfinden, ob der Vater Reue verspürte, ob er aus freiem Willen handelte etc. – alles Aspekte, die auch zur „Wahrheit“ dazugehören. Oft ist es so, dass „die Wahrheit“ deshalb unattraktiv wirkt, weil man einen Teil von ihr für das Ganze hält.