Freiheit vs Schuldkult

Da es ein langer Artikel ist, Fazit und Call-to-action zu Beginn: Geh beichten!

In einem Artikel, den ich für das Online-Magazin *corrigenda schrieb, analysierte ich vor einiger Zeit ein „Dresdner Gespräch“, einen Videopodcast von Maximilian Krah, der sich mit Björn Höcke u.a. über Religion austauschte. Abgesehen von diesem ominösen Setting, dass es offenbar Trend ist, sich einander gegenüberzusetzen und einander die – ähm – also, einander gegenseitig auf die Schulter zu klopfen, sagen wir es so (ja, wahrscheinlich ist das schon seit zehn Jahren Trend und ich habs einfach nicht mitbekommen, ewiggestrig halt) …, war es ein ziemlich erschreckendes Gespräch. Wobei Höcke nun nicht besonders überraschen konnte: neopaganös-nietzsche-esk halt.

Exkurs: Dazu muss ich einfach noch eine Anekdote loswerden: Auf dem Gymnasium kam in der Oberstufe ein osteuropäischer Schüler in meine Klasse. Er war ein Streber von der Sorte, für die ich schon immer größte Verachtung hegte: Leute, die mit Fachterminologie und Zitaten anderer Menschen um sich werfen, aber nichts selber durchdrungen oder verstanden haben. In einer Deutschstunde leistete ich mir mit ihm einen Disput, den Deutschlehrer an meiner Seite. Das half allerdings nichts gegen die Expertise dieses Schülers. Um seine über jeden Zweifel erhabene Autorität deutlich zu machen, brachte er mich mit dem überzeugendsten Argument unter der Sonne zum Schweigen: „Ich chabe Nittzsche gälässen.“

Warum erzähle ich das? Höcke wirkte auf mich nur unwesentlich kompetenter in seiner Nietzsche-Rezeption. Aber das nur am Rande.

Dass allerdings nun Krah, der sich als praktizierender, gläubiger Katholik präsentiert, diesem intellektuell angestrichenen Nichts noch weniger entgegenzusetzen wusste, war ein wenig schockierend. Ausgerechnet er bringt den Begriff des „Schuldkults“ auf, den das Christentum angeblich begründet hätte. Witzigerweise ein Vorurteil, das, etwas anders formuliert, auch von säkularen linksgerichteten Leuten gern bemüht wird: Die Religion, die den Menschen knechtet, indem sie ihn mit dem Begriff der Sünde gaslighted und ihn mit Höllenangst gefügig macht.

Wie aber sieht es tatsächlich aus mit dem Schuldkult? Dass Menschen sich schuldig fühlen, liegt zuerst einmal daran, dass wir tatsächlich schuldig werden. Dieser Eindruck, den wir von uns selbst bekommen, ist mitunter so überwältigend, dass manche Menschen einiges tun, um sich dieses Gefühls zu entledigen. Zum Beispiel, indem man die Existenz einer objektiven Wahrheit bekämpft: Wenn es das Gute gar nicht gibt, kann ich des Guten auch nicht ermangeln. Dann kann ich dem Guten nichts schuldig bleiben. Nun wird ein Vogel sich auch dann den Schädel an der Glasscheibe einschlagen, wenn er davon überzeugt ist, dass da keine sei. So geht es uns, wenn wir uns lieber einreden, unser Schmerz habe keine reale Grundlage. Das Christentum begründet also keinen Schuldkult, es ist bloß der „messenger“, der Überbringer der Nachricht, dass wir schuldig werden. Es sagt, wie es ist, bzw. es bestätigt, was die meisten Menschen sowieso irgendwie spüren, wenn sie sich nicht durch irgendetwas ablenken oder taub machen. Anders als andere Religionen bietet das Christentum allerdings auch eine menschenfreundliche Lösung für das Problem: Anstatt unser ganzes Leben lang der Schuldlosigkeit hinterherzurennen, bekommen wir Vergebung zugesprochen in einem unglaublichen Gnadenakt. Wow. Das ist unglaublich ehrlich: Wir müssen nicht so tun, als sei das Böse, das wir getan haben, gut. Wir müssen auch nicht so tun, als hätte unsere böse Tat keine Bedeutung gehabt.

Darum ist insbesondere das Sakrament der Versöhnung ein unfassbar befreiender Akt. In Bachs Johannespassion heißt es: „Von den Stricken meiner Sünden mich zu entbinden, wird mein Heil [Jesus] gebunden.“ Die Sünden als Ketten, Stricke, Fallschlinge, von denen wir befreit werden. Das ist nicht nur ein Bild. Ich mache immer wieder ganz konkret die Erfahrung, dass die Beichte frei macht: Sie sagt uns, dass wir jeden Tag wieder versuchen dürfen, freie Christenmenschen zu sein, die Gott folgen dürfen und können. Nein zum Bösen sagen zu können, Ja zum Guten; das ist der höchste Grad an Freiheit, den ein Mensch haben kann.

Das äußert sich oft schon in kleinen Dingen. Wenn es z.B. um unseren Stolz geht: Wie gehen wir damit um, wenn wir die Möglichkeit haben, unsere Fehler und Schwächen mit ein wenig Unehrlichkeit aufzuhübschen? Der freie Mensch ist doch der, der dann sagen kann: Es muss mich nicht kümmern, ob die anderen über mich lachen, mich dumm oder für einen Narren halten. Und im großen, dramatischen Kontext kann es um Leben oder Tod gehen: Die Kirche ehrt nicht zuletzt die Märtyrer für die Freiheit, mit der sie Ja dazu sagen konnten, ihr Leben für Christus niederzulegen. Für mich ist eines der bewegendsten Beispiele an dieser Stelle der hl. Maximilian Kolbe, und ganz aktuell: Der Ghanaer, der, mit 20 Kopten von Islamisten entführt, bei ihnen blieb, um mit ihnen getötet zu werden. Der katholische Glaube will uns helfen, so frei zu werden, dass wir das Gute erkennen und wählen können, ganz gleich, in welcher Situation.

Ein Unterschied zur protestantischen Haltung liegt meiner Ansicht nach darin, dass unser Handeln durch die Beichte gewürdigt und gestärkt wird: Keine Beichte ohne Buße. Und wenn es nur ein Vaterunser ist: Ein kleiner Akt, mit dem der Mensch signalisiert: Ja, Gott, ich will mitarbeiten, ich will dir helfen.“ Wir erleben uns dadurch gewissermaßen „empowert“: Gott erlöst, aber wir wirken mit, und wir erleben diese Wirkmacht unserer Handlungen gleich im Anschluss an das eigentliche Geschehen der Vergebung. Das spornt an, es dann auch gleich weiter zu versuchen.

Die Selbstlosigkeit, die das mit sich bringt, ist keine Selbstaufgabe, wie sie manchmal als falsch verstandene Christusnachfolge praktiziert oder kritisiert wird, sondern Selbsthingabe. Ein kleiner, manchmal nicht leicht zu erfassender Unterschied. Und – sekundär, aber nicht unwichtig – es bringt eben auch eine Distanz zu uns selbst, die uns ermöglicht, zu wachsen. Wir lernen in kleinen Schritten, dass wir uns ändern und ändern lassen können. Und damit lernen wir auch, dass unsere Prägungen und „Päckchen“ wir mit uns herumtragen, unsere Erfahrungen und Traumata uns ebensowenig fesseln müssen, wie die Sünde. Es wird mit Recht darauf hingewiesen, dass Beichte kein Therapieersatz ist, dass man aufpassen muss, geistliche Begleitung und psychologische Betreuung nicht miteinander zu vermischen. Diese Warnung ist nötig, weil es seelische Krankheiten und Nöte gibt, die nicht aus persönlicher Sünde hervorgehen. Es wäre gefährlich, dann auf ärztliche Versorgung zu verzichten; abgesehen davon, dass man auch Priester nicht mit Aufgaben überfordern sollte, die sie schlicht nicht erfüllen können.

Dass es allerdings Schnittmengen gibt, dass auch vieles, was in unserer kranken Gesellschaft Seelen krank macht, durchaus spirituelle Komponenten hat und durch ein geistliches Leben gelindert oder behoben werden kann, sollte man ebensowenig leugnen. Gerade die Erfahrung, nicht gefesselt zu sein an das, was einem doch übermächtig und unentrinnbar erscheint, kann eine solche Komponente sein, die uns hilft, unser Leben auch abseits der geistlichen Sphäre mit neuem Elan und Zuversicht anzugehen, und die Freiheit, die aus der Gnade Gottes resultiert, auch dort zur Entfaltung zu bringen.

Heiliger Pfarrer von Ars, bitte für uns! Heiliger Johannes Nepomuk, bitte für uns!