Sex, Drugs & Rammstein

Ich habe ca. seit meinem vierzehnten Lebensjahr gern Rammstein gehört. Ich mag den Bombast, den ich zwar letztlich nur für eine eigene Form von Kitsch und nicht für besonders innovativ halte. Aber ich mag eben Kitsch und bin nicht innovativ; ich mochte viele Texte, und ich habe einen Sinn für Exaltiertheit. Ich hatte keine Probleme mit ekelhaften, gewalttätigen und pornographischen Texten; zum einen, weil ich solche Lieder kaum je aktiv gehört habe. Zweitens bin ich ausgebildete Bühnendarstellerin. Als Sängerin wird man eher in der klassischen Weise ausgebildet, die Schauspiel als *Schauspielern* versteht. D.h. ich bin nicht, was ich zeige, ich stelle es lediglich dar. Auch das ist intensiv, aber ich wäre niemals auf die Idee kommen, dass das authentische Darstellen einer Mörderin mich zur Mörderin macht, in mir Mordlust hervorriefe oder Ausweis einer in mir verborgenen Mordlust sei. Wir haben Empathie, Fantasie, und Technik, um das, was ein Zuschauer sehen soll, sichtbar zu machen. Dasselbe gilt für Literatur. Wenn jetzt also Leute sagen „Er hat doch über Sex mit wehrlosen Frauen geschrieben; war doch klar!“, dann ist das für mich ein barbarisch-unterkomplex dümmliches Verständnis von Kunst, oder sagen wir neutraler: Kreativem Schaffen. Leute, die so etwas sagen, haben das Konzept des Lyrischen Ichs nicht verstanden. Ich bin davon überzeugt, dass auch hinter schlimmsten Texten völlig normale Menschen stecken können.

Davon abgesehen hätte ich mir – ganz ehrlich – denken können, dass es bei Rammstein orgiastisch zugeht. Habe ich mir aber nicht gedacht. Selber schuld, könnte man sagen. Ich weiß ehrlich im Augenblick nicht, ob ich jemals wieder etwas von dieser Band hören möchte. Im Augenblick möchte ich einfach nur kotzen, wenn ich an Rammstein nur denke. Nun könnte man mir zurecht an dieser Stelle Inkonsequenz vorwerfen. Ich höre auch Wagner, obwohl dieser mit seinen antisemitischen Ideen an einem mörderischen ideologischen Teppich für den Nationalsozialismus zumindest mitgewoben hat. Das ist inkonsequent, und ich stelle hier auch nicht den Anspruch, moralisch „die“ richtige Entscheidung zu treffen. Es handelt sich lediglich um meine Gemütslage. Definitiv ist mein Bewusstsein dafür, dass ich dafür mitverantwortlich bin, welchen Menschen, Haltungen und Werten ich in mir und in der Gesellschaft Raum gebe, geschärft worden.

Mit dieser emotionalen Einlassung ist wohl deutlich gemacht, was ich von der frauenverachtenden Haltung und von dem entwürdigenden Vorgehen Lindemanns und seiner Helfer(in) halte. Ekelhaft.

Kann es hier überhaupt ein „Aber“ geben? Ja. Das gibt es. Wie um alles in der Welt wurden junge Frauen erzogen, deren Selbstwert so gering ist, dass sie sich nicht trauen, nein zu sagen, wenn ein alter S*** an und auf ihnen rummacht? Was um Himmelswillen hat man ihnen vermittelt, wenn sie sich abfüllen lassen und Drogen nehmen? Ich bitte prophylaktisch darum, von dem Vorwurf des Victim-Shaming auf jeden Fall Abstand zu wahren, das wäre unterkomplex und würde der Dramatik dieses Themas nicht gerecht. Auch eine junge Frau muss wissen, wo ihre Grenze ist. Niemand hat irgendwen dazu gezwungen Drogen zu nehmen oder Alkohol zu trinken. Das, was Lindemann da getrieben hat, ist widerlich, menschenverachtend, aber es haben genügend Leute mitgemacht, und zwar *freiwillig*.

Ich mache diese Aussagen anhand der Beschreibungen, die ich gelesen habe. Ich kann natürlich nicht ausschließen, dass es weitere gibt, die mein Urteil modifizieren würden. Aber dass manche von diesen Frauen jetzt denken, sie hätten es nicht freiwillig gemacht, liegt an dem Irrtum, den Teile unserer Gesellschaft propagieren: Dass alles, was man ungern mache, damit automatisch unfreiwillig sei. Und dem ist nicht so. Auch wenn ich entscheide, etwas Unangenehmes zu tun oder machen zu lassen, bleibt mein eigenes Verhalten meine Verantwortung. Wie kann es sein, dass manche Frauen so wenig Verantwortungsbewusstsein gegenüber sich selbst entwickeln, dass sie wirklich davon überzeugt sind, der, der Drogen, Alkohol oder Sex angeboten habe, sei auch verantwortlich dafür, dass das Angebot angenommen wurde? Dass sie sich in Situationen bringen, in denen eine mittelmäßig ausgebildete Intuition sagen müsste – stop. In den Raum gehe ich nicht mit. Stop. Jetzt rufe ich erst mal eine Freundin an. Stop, jetzt rufe ich mir ein Taxi und gehe. Wenn nicht „Nein“ gesagt wird, hilft auch keine „Nein heißt Nein“-Kampagne.

Nun weiß ich, dass das Umfeld harter Musik nicht das einzige ist, in dem vulnerable Frauen ausgebeutet werden. Ich bekomme manchmal schon Übelkeitsanfälle, wenn ich sehe, wie junge Mädchen von ihren „Freunden“ behandelt werden. Seit ich kein Auto mehr habe, muss ich vermehrt bahnfahren, und werde vorzugsweise an Haltestellen Zeugin beunruhigender Vorgänge. Es gibt einen unter Jugendlichen ziemlich verbreiteten Kontrollgriff, den Hals eines Mädchens zu packen, um einen Kuss zu erzwingen, der eher was von Genick brechen als von Zärtlichkeit hat; ich frage mich, ob die alle dieselben Pornos oder Filme oder TikToker gucken, oder wo sie auf die Idee kommen, dass das eine Art und Weise sei, mit einer Frau umzugehen. Ich sehe da Mädchen, die das nicht wollen, die versuchen, sich zu entziehen, und die einfach „genommen“ werden, wie es den Jungs eben passt. Woher kommt diese Kraftlosigkeit junger Mädchen?

[Skandal mit Ansage:] Jetzt kommt das, was manche Menschen sicher nicht hören wollen: „You can’t have the cake and eat it.“ Das, was man uns über sexuelle Selbstbestimmung erzählt, ist eine Lüge. Es ist eine Lüge, dass Frauen „so stark sind wie“ Männer. Das hätten wir zwar gern. Es würde aber bedeuten, dass sie dieselben Voraussetzungen hätten, um sich zu wehren und durchzusetzen. Und das haben sie rein körperlich zumeist nicht, es sei denn natürlich, so ein pubertärer Wicht versucht, Regina Halmich zu nahe zu kommen. Na gut. Wenn man ihnen nun auch noch durch Erziehung, Rollenvorbilder etc. die mentale und psychische Kraft raubt, verurteilt man sie zum Opfertum. Mentale Kraft bekommen sie, indem man ihnen erklärt, was richtig und falsch ist, und sie befähigt, dazwischen wenigstens rudimentär zu unterscheiden. Psychische Kraft entwickeln sie, indem man ihnen Anerkennung und Komplimente ausdrückt, die nicht auf ihre Sexualität bezogen sind, indem man ihnen hilft, sich von destruktiven medialen Inhalten fernzuhalten, etc.

Es ist eine Lüge, dass sexuelle Ausschweifung Frauen befreit und Frauen empowert. Wer sich über Lindemann beschwert, muss sich auch über eine Gesellschaft beschweren, die eine Werbekampagne toleriert, in der eine wie 16 ausschauende Leni Klum an Mamas Hand in die Welt ihrer Hypersexualisierung eingeführt wird, in die Welt des Male Gaze – der natürlich auch nicht einsieht, wieso er nicht haben soll, was er sehen darf! Oder warum er nicht mit diversen Mitteln versuchen sollte, hier nachzuhelfen. (Sehr gut, damit einen Artikel gespart, darüber hatte ich noch schreiben wollen, weil es das ekligste ist, was ich in der letzten Zeit gesehen habe). Wer sich über Lindemann beschwert, sollte nicht übersehen, dass hier jemand „nur“ ausgenutzt hat, was man ihm bereitwillig zum Fraß vorgeworfen hat. Mädchen, deren Schamgrenze früh gesenkt wird, denen vermittelt wird, dass sie dazu da sind, begehrt zu werden. Mädchen, die kein Selbstwertgefühl vermittelt bekommen, die nicht gestärkt werden, nicht aufgebaut.

Nun könnte man einwenden, ich begehe hier wieder den groben Fehler, die Verantwortung auf den Frauen abzuladen. Das möchte ich nicht. Ich will in diesem Artikel lediglich bloß auf eine Komponente von mehreren eingehen. Ich habe in manchen Artikeln über Männer schon ansatzweise auch über die Verantwortung des Mannes gesprochen, und trage auch schon länger einen Artikel dazu mit mir herum. Andererseits kann man ja nun einmal nicht ändern, dass wir Frauen eben darunter leiden, wenn wir sagen „Das müssen die Männer richten, indem sie sich ritterlich verhalten. Ach, aber wir sind ja gegen Ritterlichkeit. Hm. Shit. Tja.“. Es führt kein Weg daran vorbei, dass wir auch überlegen, wie wir an dieses Problem herantreten wollen.

Religiös betrachtet handelt es sich hier um eine Perversion der Tatsache, dass wir aufeinander hingeordnet sind. Denn das sind wir als Personen in Gänze. Hier aber wird die Frau auf Sexualität reduziert und als Rumpf-Frau dem Mann angeboten. Dummerweise ist das Missverständnis der Sexuellen Befreiung, dass Frauen dann frei seien, wenn sie diese Reduzierung nicht (mehr) von Männern vornehmen lassen, sondern sich selbst reduzieren. Die woke, diversitätssüchtige linksliberale Klasse sollte langsam ein wenig Ehrlichkeit einkehren lassen: Der Gebrauch von Freiheit will gelernt sein. Und um sie erlernen zu können, ohne bei Unfällen Schaden zu nehmen, braucht es Schutz. Deshalb ist alles andere, als einem Mädchen zu raten, seine Freiheit dazu zu nutzen, keinen Sex zu haben, Vorstufe zur Kuppelei. Einem Mädchen bloß zu sagen, es sei frei, zu tun, was es wolle, bedeutet, es Männern auszuliefern, die wissen, wie sie diese Mädchen dazu bekommen, ihre Freiheit im Sinne dieser Männer „einzusetzen“. Zum freien Willen gehört auch die rationale Fähigkeit, den eigenen Willen nicht nur oberflächlich feststellen, sondern ihn auch einer kritischen Reflexion unterziehen zu können. Das aber bedarf (neben Erfahrung, Bildung usw.) der Maßstäbe, die zur Reflexion angesetzt werden. Unsere Gesellschaft vermittelt aber als einzigen Maßstab eben jene „Freiwilligkeit“, womit unschuldige junge Menschen in einen fatalen Zirkelschluss geworfen werden: Sie sollen anhand dessen, was sie (noch) nicht bewerten können, bewerten, ob sie das, was sie tun wollen, wirklich tun wollen.

In einer Gesellschaft, in der „alles geht“, geht eben alles für die, die Macht auszuüben verstehen. Es genügt nicht, moralisch empört mit dem Finger auf Lindemann zu zeigen. Schon gar nicht mit in Unschuld gewaschenen Händen. Die Fehler unserer Zeit exkulpieren ihn nicht. Zugleich müssen wir uns fragen, welchen Anteil unsere Haltung zu Sexualität daran hat, dass solche Unholde walten können, wie sie mögen. Denn, und dies sei das Schlusswort zu diesem Rant: Menschen wie er sind die Spitze des Eisbergs. Ich habe „honorige“ Männer erlebt, die genau dasselbe Verhalten an den Tag legen, aber piekfein und mit teurem Aftershave. Niemand kann diesen Männern Gewalt vorwerfen. Nichtsdestotrotz sind sie Gewalttäter. Jedes Mal, wenn einer wie Lindemann unter Beschuss gerät, können die sich zurücklehnen und das nächste Schäferstündchen mit einer nach Anerkennung und Annahme dürstenden Frau organisieren.

Lesehinweis: Dieser Artikel ist in einem aufgebracht zeternden Ton vorzutragen, ungefähr so wie ein aufgebrachtes Eichhörnchen (so habe ich mich nämlich beim Schreiben gefühlt)

Heilige Maria, Königin der Jungfrauen, bitte für uns. Heilige Maria Goretti, bitte für uns. Heiliger Joseph, bitte für uns.