Verkapptes Pharisäertum

„Ich bin aus der Kirche ausgetreten, weil mich die Institution enttäuscht“. Oder: „…weil die Diskrepanz zwischen dem, was sie darstellt und dem, wie sie ist, so groß ist.“ Solche und ähnliche Aussagen gibt es zuhauf. Von Menschen, die der Kirche enttäuscht den Rücken gekehrt haben, und auch von solchen, die mit dem Hinweis auf die Diskrepanz zwischen Lehre und Realität den christlichen Glauben ablehnen.

Gleich vorweg: Grundsätzlich empfinde ich den Impuls derer, die die Kirche verlassen, verständlich. Oft sind es gar nicht die „großen“ Sachen, sondern die alltäglichen: Die Cliquenbildung in der Gemeinde, die üble Nachrede, der Pfarrer, der Initiativen blockiert oder durch ostentative Nichtunterstützung schwächt, jahrelanges Aushalten, weil bei anderen Beteiligten kein Problembewusstsein besteht: Verständlich, wenn irgendwann kein Wille mehr da ist. Noch schwerwiegender ist es natürlich, wenn Missbrauch oder grobe Ungerechtigkeiten einen Menschen verwunden. Dass da Menschen den Glauben verlieren, ist überhaupt kein Wunder. Man müsste meiner Ansicht nach sogar sagen: Der Glaube wird solchen Menschen genommen. Ihnen wird geraubt, was ihnen zusteht, und zwar in der widerlichsten Art und Weise.

Die eingangs erwähnte Argumentation aber hat dennoch einen großen Haken. Kirche fällt nicht vom Himmel. Sie wird aus Menschen geformt. Gäbe es irgendein Verbrechen, wenn sich jeder einzelne Katholik in jeder Sekunde voll an das Wort Jesu und der Kirche halten würde? Nein. Warum also gibt es in der Kirche Verbrechen und Sünde? Weil Menschen anders handeln, als sie kraft ihrer Taufe zu handeln befähigt und verpflichtet sind.

Die Kirche als göttliche Institution hat einen Schatz an Gnade in Sakrament und Wort. Ansonsten hat sie nichts außer den Menschen, die ihr durch die Taufe eingegliedert werden. Ich sage das nicht als Whataboutismus, sondern um einmal den Fokus darauf zu legen, wie wir uns eigentlich selbst in Bezug auf die Kirche bestimmen. Denke ich, wenn ich etwas falsch mache: „Oh shit. Ich habe gerade als Teil des Leibes Christi über einen Menschen gespottet. Ich habe gerade Jesu Antlitz für andere verdunkelt! Hilfe! Ich habe Christus verraten!!!“?

Es ist spannend, dass zwar viele nach Autorität in der Kirche gieren. Die Krise des Beichtsakraments lässt aber nicht vermuten, dass sie auch gleichzeitig mit der Verantwortung umgehen wollen, als Vermittler göttlicher Autorität auch entsprechend in allem, was sie tun, als Repräsentanten Christi dazustehen. Die Diskrepanz zwischen dem, was die Kirche lehrt, und dem, was Mitglieder der Kirche tagtäglich tun, muss jeden Tag neu so weit wie möglich verringert werden. Das ist Auftrag der Kirche, keine Frage. Wenn ich aber behaupte, „die Kirche“ habe mich enttäuscht, dann besteht für mich die Frage, wie oft ich denn als Kirche enttäuscht habe. Übrigens tatsächlich eine heikle Angelegenheit, weil man diese Herangehensweise natürlich dazu nutzen kann, um Menschen, die innerhalb der Kirche Verbrechen oder Ungerechtigkeiten zum Opfer fallen, zum Schweigen zu bringen: „Du bist ja nicht besser. Du bist ja auch Sünder.“ Das möchte ich auch mit diesem Artikel übrigens auf keinen Fall! Zum einen, weil „besser“ von Fall zu Fall unterschiedlich ist. Ganz klar ist die streitsüchtige Furie in der Gemeinde objektiv weniger schlimm als ein Priester, der ein Kind missbraucht. Zum anderen bedeutet meine eigene Unzulänglichkeit nicht, dass ich mich nicht über die Unzulänglichkeiten (oder gar Schlimmeres) Anderer ärgern oder darunter leiden darf. Und schon gar nicht heißt es, dass man nicht danach streben dürfte, Dinge zu verbessern. Überhaupt scheint das ein relativ verbreitetes Missverständnis zu sein: Wer die Kirche liebt, sich in ihr wohlfühlt, habe wohl keine Anmerkungen, keine Einwände und Ärgernisse, und sei mit allem einverstanden, was in der Kirche geschieht. So ein Blödsinn. Wer die Kirche dennoch liebt, der liebt sie, weil Christus die Kirche liebt, nicht, weil er ein konfliktfreies Leben in der Kirche hat. Weil er vernünftigerweise keine Maßstäbe an andere anlegt, die er selbst nicht erbringt. Und sehr wohl kritisieren Menschen, die die Kirche und ihre Lehre lieben, Missstände. Bloß halt nicht aus der bequemen Haltung des Pharisäers heraus, der meint, besser zu sein, als andere.

Das Bewusstsein für meine eigene miserable Performance als „Kirche“ kann Einfluss darauf haben, wie ich mit Problemen in der Kirche umgehe. Wer nämlich insgeheim meint, besser zu sein als jene, wer den Zusammenhang zwischen Kirche und Ich nicht wahrnimmt, der wird schnell austreten und meinen, die Kirche verdiene keine Gefolgschaft, weil sie schließlich nicht dem entspricht, was Jesus fordert. Würde die Person aber im Umkehrschluss auch meinen, sie verdiene keine Gefolgschaft, keine Gemeinschaft mit anderen, weil sie dem, was Jesus fordert, nicht entspricht? Wohl kaum.

Die Kirche lehrt die eigene Heiligkeit und Unfehlbarkeit ja gerade nicht im Hinblick auf die einzelnen Glieder, sondern nur im Hinblick auf Jesus. Die einzelnen Glieder bekennen ihre Schuld und Sünde jeden Tag! Und zwar inklusive des Klerus. Die Kirche versteckt und leugnet diese Diskrepanz also gar nicht, sondern benennt sie ganz direkt als schmerzhafte Konsequenz der Sünde. Wer aber mit dem Hinweis auf die Sünde in der Kirche diese ablehnt, tut meistens so, als habe er da ein Geheimnis entdeckt, einen Skandal aufgedeckt, eine bahnbrechende Erkenntnis, die die Kirche zu vertuschen suche. Die Kirche sagt lediglich, dass Gott trotz unserer Sünde nicht von uns lässt. Er ist treu, wo wir untreu sind. Diese Haltung haben solche Menschen meist auch, und zwar sich selbst gegenüber: Sie würden sich nicht selbst verdammen, weil sie selbst nicht perfekt sind, sondern davon ausgehen, dass sie dennoch liebenswert sind. Warum soll dies aber nur für sie gelten, nicht aber für die anderen Glieder des Leibes Christi?