Alles ist relativ – oder?

Ob Missbrauch, Rassismus, Nazi-Verbrechen, Corona: Wenn man in einen Diskurs über solche Themen einsteigt, hat jeder ein Problem, der verschiedene Parameter berücksichtigen will, denn er wird postwendend mit dem Vorwurf konfrontiert werden, zu „relativieren“. Normalerweise schrecken wir davor zurück, wenn man uns dies vorwirft, denn normalerweise (okay, ich sollte hier vielleicht nur für mich sprechen) will man ja wirklich nicht, dass das Verbrechen oder Problem, über das man spricht, kleiner wirkt, als es ist, weil man noch andere Bereiche in die Überlegung mit einbezieht. Bloß: Wir benutzen das falsche Wort. Was wir meinen ist „verharmlosen“. Wenn ich z.B. sage, dass auch Schwarzafrikaner und Araber als Sklavenjäger und -händler aktiv waren, dann will ich damit nicht die Verbrechen der Europäer und US-Amerikaner verharmlosen. Ich will sie aber genau genommen, wortwörtlich, relativieren: In Relation setzen. Und das ist nicht böse, das ist wahnsinnig wichtig. Wegen der Vernunft und wegen der Gerechtigkeit.

Um der Vernunft willen muss ich Dinge in Relation zueinander setzen, weil ich sonst gar keine Zusammenhänge verstehen kann. Wir müssen Parameter miteinander vergleichen, aufeinander beziehen, miteinander verknüpfen. Damit „relativieren“ wir automatisch. Das bedeutet aber nicht, dass ein Übel für sich genommen weniger schlimm wird dadurch, dass auch andere Verbrechen begehen. Zudem gibt es nicht nur die großen Verbrechen, die uns alle sprachlos und hilflos zurücklassen. Es gibt auch im gesellschaftspolitischen Diskurs zahlreiche Situationen, in denen wir in Relation setzen müssen. Zum Beispiel verlangen Klimaschützer zunehmend, den Klimawandel in einer Art und Weise einzuordnen, die jede Relativierung verbietet. Dann wird plötzlich alles erlaubt und möglich, was im Namen des Klimaschutzes geplant ist. Kinder begüterter Eltern verhalten sich völlig neurotisch, erwarten aber, dass man ihre Gefühle ohne jede Relativierung als Maßstab für das Handeln von Politik und gesellschaftlichen Akteuren setzt. Hier muss man in Relation setzen! Nicht alles, was getan werden kann, darf getan werden. Grundsätzlicher: Nicht jeder Level an Emotionalität ist angemessen. Es hat nicht automatisch der Recht, der am meisten Angst oder Panik oder Wut hat, oder der zufällig medial am meisten präsent ist.

Damit kommen wir nämlich zum zweiten Punkt: Auch die Gerechtigkeit macht es notwendig, in Relation zu setzen. Ist denn das Opfer arabischer Sklavenhändler weniger wert, hat es weniger gelitten als das englischer Sklavenhändler? Ist ein Opfer des Völkermords an den Armeniern nicht berechtigt, gewürdigt und betrauert zu werden, weil der Holocaust alle Dimensionen des Grauens gesprengt hat? Und dürfen wir bei Kindesmissbrauch in Familie oder Sportvereinen (oder in der evangelischen Kirche, for that matter) wegschauen, aus Angst, sonst jene, die Opfer von sexueller Gewalt in der Kirche geworden sind, nicht genügend anzuerkennen?

Ich denke, angesichts des Grauens in der Welt, das Menschen einander zufügen, ist es verständlich, dass es uns überfordert, damit umzugehen. Wir können den Gulag nicht begreifen, oder Auschwitz, oder die Sklavenschiffe oder Kindesmissbrauch. Wenn wir Netze des Bösen ausfindig machen wollen, dürfen wir die einzelnen „Knoten“ des Bösen nicht isoliert betrachten, sondern müssen eben auch die Verbindungen dazwischen anschauen dürfen, ohne dass man uns die Wahrnehmung vielfältiger Übel als Vernachlässigung eines jeweils besonders ins Auge fallenden Übels ankreidet.

Ich denke, dass wir viele heillose Diskussionen und unfaire Beschuldigungen vermeiden könnten, wenn wir hier in unserem Sprachgebrauch ein wenig präziser wären: Man darf nichts verharmlosen, auch nicht, indem man ein Übel gegen ein anderes ausspielt – aber sehr wohl dürfen wir in Relation setzen.