Maria Goretti – Missbrauchte Märtyrin?

Es gibt Heilige, die regelmäßig, d.h. vor allem jeweils zu ihrem Gedenktag, bestimmte Kontroversen auslösen. Dazu gehört auch die junge Heilige Maria Goretti, ermordet 1902 im Alter von elf Jahren von einem jungen Mann, der sie vergewaltigen wollte und aufgrund ihrer Gegenwehr erstach. Seliggesprochen wurde Maria Goretti 1947 und heiliggesprochen 1950, im Beisein ihrer Mutter. Ihr Gedenktag ist der 6. Juli.

Bis vor einigen Jahren konnte ich mit dieser Heiligen absolut gar nichts anfangen. Unterschwellig hielt ich ihre Verehrung für eine Manifestation der gesellschaftlichen Unterdrückung der Frau, die nur als Opfer etwas gilt. Ich dachte, sie sei ein Straw“girl“, das dazu herhalten muss, um vergewaltigten Frauen ein schlechtes Gewissen darüber einzureden, dass sie das „Pech“ hatten, eine Vergewaltigung zu überleben: Die Ermordete ist heilig, aber du, warum lebst du denn noch? Bist du vielleicht gar kein richtiges Opfer?

Ein Problem ist sicher, dass sie gern als Märtyrerin der Reinheit bzw. für die Reinheit bezeichnet wird. Das ist im Zusammenhang mit dem Sexualverbrechen missverständlich, weil der Begriff Reinheit von vielen Menschen falsch verstanden wird. Dies möchte ich an dieser Stelle allerdings nicht vertiefen, da dieser Blogeintrag sonst zu lang würde.

Das große Missverständnis, das man auf jeden Fall thematisieren muss, und zwar egal, ob es von säkularen Goretti-Kritikern oder von verstrahlten Katholiken käme (wobei ich das ehrlich gesagt noch nie von Katholiken gehört habe, aber es gibt nichts, was es nicht gibt), ist, dass ihre Heiligkeit darin bestünde, dass sie bei der versuchten Vergewaltigung gestorben ist. Natürlich ist Fakt, dass sie dem Angriff nicht nachgegeben hat, weder innerlich noch äußerlich. Insofern ist es nicht falsch, zu sagen, dass sie lieber gestorben ist, als Unzucht zu begehen. Es ist aber auch eine unglückliche Formulierung, weil der denkerische Kurzschluss naheliegt, dass, hätte sie sich nicht „erfolgreich“ körperlich zur Wehr gesetzt, dies ein Einwilligen gewesen wäre.

Das wäre und war es nach kirchlicher Auffassung nicht, und das finden wir ziemlich klar auch bereits bei Augustinus. Der stellt fest, dass, wenn man innerlich nicht zustimmt, keine Sünde seitens des Opfers vorliegt. Punkt. Nun haben Säkulare halt grundsätzlich ein Problem mit dem Begriff Unzucht, und empfinden daher bereits als skandalös, wenn man überhaupt darauf hinweist, dass man mit der Einwilligung in einen außerehelichen geschlechtlichen Akt eine Sünde begeht. Das ist das eine. Das andere ist ein – meiner Ansicht nach völlig verständliches – Unbehagen, wenn diese katholische Überzeugung auch nur im Dunstkreis einer Vergewaltigung geäußert wird. Weil nun einmal nicht wegzudiskutieren ist, dass die Täter-Opfer-Umkehr bei Vergewaltigung ein beliebtes und bis heute gebräuchliches Mittel ist, um Männer zu exkulpieren und Frauen zu dämonisieren. Die Behauptung, die Frau habe das doch irgendwie gewollt oder verdient, kommt immer wieder auf.

Das ist ekelerregend, ändert aber nichts daran, dass die Aussage über Maria Goretti an sich faktisch korrekt ist (aus katholischer Sicht freilich), und keine oben erwähnte frauenfeindliche Komponente enthält, es sei denn, man legt sie ihr bei. Meiner Ansicht nach handelt es sich hier allerdings um eine Art Trauma. Wie viele Millionen Frauen wurden im Laufe der Menschheitsgeschichte vergewaltigt, ohne Gerechtigkeit zu erfahren, wie vielen wurde nicht geglaubt, wie vielen wurde eingeredet, sie seien selbst daran schuld? Darum ist verständlich, dass manche Leute hier gar nicht klar denken können. Fans von Maria Goretti sind also gut beraten, diese psychologische Dimension zu respektieren und nicht unnötig Fehlvorstellungen zu triggern.

Ein weiterer Stolperstein ist, dass Maria Goretti ihrem Vergewaltiger vergeben hat. Jetzt sollen Frauen auch noch ihren Peinigern und Mördern vergeben. Tja. Das ist halt ein christlicher Auftrag an alle Menschen. Die Kirche kann ja schlecht Vergebung predigen und dann sagen: Aber bei diesem Verbrechen ist es falsch, zu vergeben. Dass die Kirche jene feiert, die unsägliches Leid vergeben konnten (und können), ist nun einmal ganz grundsätzlich in Jesus Christus und seinem unsäglichen Leiden begründet und kann nicht verändert werden. Der Fehler liegt auch hier wieder in einer falschen Umkehrung. Dass die Kirche den feiert, der es vermag, bedeutet nicht, dass sie den verdammt, der es nicht vermag.

Der Twitter-Meckerer, der mich zum Blogeintrag inspiriert hat, vermeinte, in der Heiligsprechung Marias eine nachträgliche Überhöhung zu sehen. Dies ist in ihrem Fall meiner Ansicht nach besonders irrig. Wir wissen vom Täter (natürlich sind wir frei, anzunehmen, dass er gelogen habe), dass sie mit dem Hinweis auf Gott und die Sündhaftigkeit seines Ansinnens versucht hat, ihn von der Tat abzubringen. Es handelt sich hier also um ein Kind, das trotz mangelnder Bildung und entsetzlicher sozialer Zustände glasklar wusste, was man von ihm verlangen darf und was nicht. Dies als nachträgliche Überhöhung zu framen, scheint mir angesichts unserer Zeiten geradezu gefährlich. In den folgenden Jahrzehnten wurde nämlich genau diese Klarheit bewusst verdüstert und vernebelt. Heute werden bevorzugt (nicht nur) junge Mädchen Opfer von sexueller Gewalt, die man nicht strafrechtlich verfolgen kann, weil sie kein Verbrechen im juristischen Sinne darstellt. Wenn ein Mädchen mit einem Jungen schläft, weil alle in der Klasse das schon gemacht haben, oder weil man das so macht, oder weil es peinlich ist, Jungfrau zu sein, dann ist das „gewaltlose“ Gewalt (auch am Jungen übrigens): Die Jugendlichen geben einem diffusen gesellschaftlichen Druck oder direkter Peer-Pressure nach, nicht selten evoziert von Pornographie und der überall gegenwärtigen Sexualisierung, was man durchaus als Missbrauch bezeichnen kann. Aber niemand kann etwas dagegen tun, denn es ist ja „freiwillig“. Dass das ein Problem ist, fiel zuletzt in Sachen Rammstein auf – auch wenn es hier junge Frauen traf. Außer moralischer Entrüstung, die dem sonstigen Lifestyle diametral widerspricht (denn Game of Thrones, das genüsslich brutal die wiederholte Vergewaltigung eines Mädchens inszeniert, schauen dann doch fast alle, und ergötzen sich an der Grausamkeit), hat man hier keine Handhabe. Denn uns wurde ja erzählt, Freiwilligkeit sei der einzige Parameter, während zugleich die moralische Fähigkeit, einzuwilligen, in vielen Fällen als eingeschränkt gelten kann. Maria Goretti war zwar erst elf Jahre alt, aber laut dem Zeugnis des Täters im Besitz ihrer selbst und gab diesen nicht auf. Papst Pius XII. hatte an dieser Stelle ein sehr sicheres Gespür für das, was auf junge Menschen seiner Zeit und späterer Zeiten zukommen würde. Maria wird nicht dafür verehrt, dass sie das Verbrechen nicht überlebt hat, sondern dafür, dass sie sich gegen unrechtmäßigen Anspruch auf ihren Körper gewehrt hat – und darüber das Seelenheil des Täters nicht aus den Augen verlor. Daher scheint es absolut angemessen, sie als junger Mensch anzurufen, um Hilfe zu erbitten angesichts der Lügen, die der Jugend erzählen, Freiheit und Selbstbestimmung bestünden darin, den eigenen Körper anderen auszuliefern. Mehr noch. Auch angesichts kirchlicher Skandale um Missbrauchstäter wie Rupnik oder Vanier, die solche Auslieferung auch noch als spirituelle Pflicht darstellten – widerlicher geht es nicht – scheint sie mir eine beredte Anklägerin der Verbrecher zu sein.

Schließlich muss man sagen: Die Kirche feiert Maria als echte Märtyrerin. Das ist eine Ansage! Ein Märtyrer ist jemand, der sein Blut für Christus vergießt. Die Kirche sagt hier also nichts Geringeres, als dass ein Angriff auf die Keuschheit eines Menschen ein Angriff auf Christus selbst ist, dass der Angegriffene hier einem aus Glaubenshass ausgeübten Anschlag ausgesetzt ist. Damit erfahren körperliche Integrität und sexuelle Selbstbestimmung eine ungeheure Aufwertung. Es versteht sich von selbst, dass die Kirche damit über sich selbst ein hartes Urteil verhängt, wo innerhalb der Kirche Missbrauch und Vertuschung stattfinden: Ein direkter Angriff auf Christus! Jedem Verantwortlichen sollte das Blut in den Adern gefrieren ob der Gefahr, seinen Aufgaben nicht gerecht zu werden, Christus zu verraten, seine Märtyrer zu verhöhnen, indem er zu wenig gegen Missbrauch und für Aufklärung tut.

Kann Maria Goretti missbraucht werden als Protagonistin eines unangemessenen und unkatholischen „Reinheitskults“? Ja. Kann sie. Genauso kann Christus missbraucht werden für allerlei gesellschaftliche oder politische Anliegen. Genauso kann Gott instrumentalisiert werden für irgendwelche Ziele, die Menschen haben mögen. Hier wird ein Mädchen verehrt, das Nein gesagt und gemeint hat, und das zugleich über die wirklich übermenschliche Größe verfügte, dem Täter noch auf dem Sterbebett zu vergeben und seine Seele retten zu wollen. Sicher werden manche Menschen das nicht glauben können. War sie nicht zu klein, zu jung, zu arm, um eine solche Entscheidung treffen zu können? Solche Skepsis ist nicht per se unberechtigt. Die Schrift und die Tradition legen aber Zeugnis dafür ab, dass es weder Alter noch Besitz noch Bildung braucht, um Christus ganz und gar nachzufolgen. Entweder, man nimmt diesen Gedanken ernst, oder man verwirft ihn, ist damit aber chauvinistischer als die Kirche, die auch Kinder als vollwertige Bürger des Himmelreiches und Glieder des Leibes Christi betrachtet.

Man kann natürlich auch der Ansicht sein, die Kirche sei lediglich eine Institution, die Menschen unterdrückt, indem sie Opfertum zu Heldentum verklärt, die Opfer damit in einen goldenen Käfig sperrt und den Tätern Macht gibt. So sehen viele säkulare Menschen die Kirche tatsächlich. Dann aber wären auch ein Maximilian Kolbe, eine Edith Stein nur Instrumente einer machthungrigen Institution, ihre Hingabe wäre eine Lüge: Christi Wort vom Kreuz, die Erhöhung am Kreuz, sind und bleiben Anstoß, vor 2000 Jahren ebenso wie heute. Und damals wie heute verunsichert es Menschen, wenn sie hören, dass tatsächlich und wirklich Menschen so fest an dieses Erlösungsgeschehen am Kreuz glauben, dass sie die Machtverhältnisse der Welt für überwunden und unumkehrbar umgeworfen halten, so wie Marias Namenspatronin, die erhabene Gottesmutter und Jungfrau, die genau das im Magnificat bekennt. So bleibt auch Maria Gorettis Bekenntnis anstößig, weil sie Christus gleich geworden ist.

Heilige Maria Goretti, bitte für uns!