Bibelstellenbattle – warum man nicht mit Bibelversen argumentieren sollte

Es gibt eine Argumentationsweise, die ich leidenschaftlich ablehne, und ich beobachte mit Unbehagen, wenn Katholiken sich dieser Technik befleißigen: Argumentation mit Bibelstellen. Nun könnte man sagen, das sei doch genuin katholisch, und ja, grundsätzlich ist es das. Wenn wir Kirchenväter lesen, finden wir kaum ein Argument, das nicht mit einem Vers aus der Schrift unterfüttert ist, und die Bibel selbst ist uns Beispiel für diese Technik. Schon Jesus wendet sie an, und Paulus untermauert die Gültigkeit seiner Aussagen gern mit Schriftstellen. Das ist nicht kritikwürdig. Allerdings ist der Katholizismus auch von Beginn an ein großer Fan der vernunftbasierten Erörterung. Wenn Gott die Welt geschaffen hat, und nicht nur die Schrift, wenn er dem Menschen Sinne und Verstand gegeben hat, ist es nicht unangemessen, diese Gaben einzusetzen, um Erkenntnis zu gewinnen. Dass wir also Bibelstellen finden, die unsere Meinung unterstützen, wenn diese der Wahrheit entspricht, ist logisch, da die Bibel vom Geist inspiriert und die Welt vom Geist durchwirkt ist, und der Geist wird sich wohl nicht selbst widersprechen. So weit so gut. Was habe ich dann gegen Bibelstellen als Begründung?

Mein erster Einwand ist, dass die Bibel als Begründung die Gültigkeit einer Aussage auf die begrenzt, die an die Bibel glauben. Das kann man sehr schnell erkennen, wenn man eine Religionsgemeinschaft wie die Mormonen betrachtet. Wenn ich etwas tue, und ein Mormone mir sagt: „Das ist Sünde, denn das steht schon im Buch Mormon, dass man das nicht darf!“, dann juckt mich das überhaupt nicht, denn ich halte das Buch Mormon nicht für autoritativ. Wenn mir ein Moslem sagt, die Bratwurst sei haram, ist mir das – genau – wurscht. Wenn der katholische Glaube aber eine universale Wahrheit verkündet, dann sollte man diese Wahrheit auch universal verständlich vermitteln können.

Ich habe kürzlich eine interessante Straßenmission beobachten können. Menschen konnten einem Prediger Fragen stellen, der sie dann öffentlich beantwortete. Ein muslimisches Mädchen stellte richtig kluge Fragen (ja, ich gebe zu, dass ich ein kleiner, dummer Chauvi bin, weil ich überrascht war, dass die Fragen so klug waren). Zum Beispiel: Ihr glaubt, dass Jesus Gottes Sohn ist. Aber Jesus war Jude. Warum seid ihr dann keine Juden? Jesus hat als Jude kein Schwein gegessen. Wieso esst ihr Schwein, wenn Jesus kein Schwein gegessen hat, und der Sohn Gottes ist? Gute Frage! Ich wäre so gern mit ihr in ein Gespräch darüber eingestiegen, dass Christentum die Erfüllung der Verheißung ist, dass das Gesetz in Jesus erfüllt ist, dass die rituellen Gesetze nicht mehr gelten *können* etc. Was aber war die Antwort des kongenialen Predigers? Er zitiert die Episode aus der Apostelgeschichte, in der Petrus gesagt wird, was Gott für rein erklärt habe, solle Petrus nicht unrein nennen. Tja. Grandiose Gelegenheit verspielt. Erstens kontextuell, denn in der Episode geht es nicht um die Speisegesetze. Zweitens: Wie soll dieses Zitat irgendwen überzeugen, der nicht an die Bibel glaubt? Für das Mädchen ist das Fazit: Ihr sagt, dass Jesus Gottes Sohn sei, glaubt aber an eine Schrift, die etwas für gut erklärt, was Jesus offensichtlich nicht gutgeheißen haben kann, denn sonst wäre das ja von ihm überliefert. Hier spielt natürlich auch die muslimische Haltung gegenüber dem Koran und dem Leben Mohammeds eine Rolle, die alle Muslime, die ich kenne, auf Christentum und Bibel übertragen. Der Gedanke, dass Bibel und Koran völlig unterschiedliche Funktionen erfüllen, und anders verstanden werden, kommt im Islam einfach nicht auf, das ist auch nicht verwunderlich. Und da Jesus als Prophet betrachtet wird, ist auch klar, warum das Mädchen meint, so wie ein Moslem Mohammed nachahmt, müsse ein Christ Jesus nachahmen. Die Erklärung des Predigers macht also nur in einem System Sinn, in dem die wortwörtliche Beachtung des Bibeltextes (natürlich nach irgendeinem Verständnisschlüssel, der im protestantischen Bereich maximal intransparent von *irgendwem* willkürlich festgelegt wird, sei es Luther, Calvin oder Penny Preacherman) als gegeben betrachtet wird. Er konnte auch nicht erklären, warum nun die Erfahrung des Petrus Vorrang habe vor dem Verhalten Jesu. Tja. Hätte er mal das Konzept Tradition gekannt.

Und damit kommen wir zum noch gravierenderen Problem: Bibelstellen haben erstens schon in sich immer einen Kontext. Wenn ich in einer konkreten Lebenssituation stehe und eine Bibelstelle befrage, wie ich mich verhalten soll, wäre es (im Normalfall) sinnlos, einfach anzuwenden, was dort steht, da ich mich in einem völlig anderen Kontext befinde. Es kann ja sein, dass Gott irgendwann irgendwem befohlen hat, irgendeine Stadt einzunehmen und alle Einwohner zu töten. Das bedeutet nicht, dass ich das auch tun darf oder gar muss. Ich darf auch keine selbsternannte Zauberin töten (ganz genau!), weil irgendwo in der Bibel steht, dass das Volk Israel es so handhaben solle. Diese Einsicht ist für einen Katholiken eigentlich ganz selbstverständlich, sie ist aber durch die Reformation erschüttert worden. Die reformatorische Herangehensweise, Bibelstellen da, wo sie einem besonders gut in den Kram passen, auf das eigene Leben anzuwenden, ist mittlerweile auch unter Katholiken gar nicht so unüblich.

Und schließlich haben die Bibelstellen auch untereinander einen Kontext, der nach einem Auslegungsschlüssel verlangt. Wenn zwei Aussagen einander widersprechen, müssen sie in einem Verhältnis zueinander stehen, das diesen Widerspruch auflöst, sonst könnte die Bibel nicht Gottes Wort sein (es sei denn, Gott widerspräche sich selbst). Dieser Schlüssel ist für Katholiken in erster Linie die Tradition, wir verwenden aber durchaus auch sekundäre Schlüssel in Form wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Wenn wir zum Beispiel herausfinden, welcher literarischen Gattung ein Text angehört, haben wir bereits eine Gewichtung darüber vorliegen, wie „anwendungsfähig“ Berichte über Belagerungen sind: Ein historischer Bericht ist halt keine Handlungsanweisung. Ich bin immer wieder überrascht, wie oft Atheisten mit dem „Argument“ kommen, „Aber in der Bibel kommt auch Gewalt vor.“ Ja – weil sie halt auch kein Märchenbuch über eine pazifistische Fantasiewelt ist, sondern manchmal einfach sagt, was passiert ist. Wenn wir einen Sachverhalt historisch-kritisch betrachten, können wir manches besser erklären. Nichts aber ersetzt die Tradition, die uns lehrt, wie die Verse zusammenhängend verstanden werden müssen oder zumindest dürfen. Diese Zusammenhänge machen es sehr schwierig, einen Vers kontextfrei als Begründung für unser Verhalten heranzuziehen. Wir müssten zumindest in der Lage sein, zusätzlich erklären zu können, warum in unserem Kontext ein bestimmter Vers zur Anwendung kommen soll. „In der Bibel steht“, ist meistens keine Begründung, weil in der Bibel eine Menge steht. Schauen wir in den Katechismus, sehen wir z.B. eine Fülle an Schriftverweisen. Diese dienen aber der Untermauerung eines Arguments, das auch noch weitere Bestandteile neben der Schrift hat, bzw. das einen größeren Rahmen betrachtet als nur eine einzige Schriftstelle.

Wenn Jules Winnfield also mit Verweis auf Hesekiel 25:17 um sich ballert, mag das beeindruckend sein, für Katholiken ist dieses Verhalten auch rein verbal nicht angemessen, und man fühlt sich definitiv immer cooler als man rüberkommt. Wer überzeugen will, sollte versuchen, deutlich zu machen, dass das Christentum eben keine in sich abgeschlossene Welt mit nur innerhalb seiner Sphäre oder nur subjektiv geltenden Regeln ist. Das ist wahnsinnig anstrengend, weil die meisten Menschen Religion nur so verstehen. Auf lange Sicht ist es aber nachhaltiger und hat den Vorteil, dass wir mit der säkularen Welt oder anderen Weltanschauungen wirklich in einen Dialog treten können.