Liebe deinen Übernächsten

Der Begriff der Nächstenliebe ist ein Kernbegriff des Christentums, und das völlig zu recht. Allerdings ist er auch ein sehr schwieriger Begriff. Da wäre erst einmal die Frage, was Liebe denn eigentlich ist. Hier ist die Gefahr einer – manchmal unabsichtlichen – Pervertierung ziemlich hoch. „Strengere“ Charaktere mögen die Liebe, die sich für uns Christen ja im Kreuz zeigt, als selbstquälerisch missverstehen, und dass dann auch gern dem Nächsten angedeihen lassen. Das für mich einsichtigste Beispiel dafür habe ich entdeckt, als ich zum ersten Mal Charlotte Brontes Jane Eyre las. Ihr Cousin St. John will sie zur Frau gewinnen, nicht, weil er sie liebt, sondern weil er für seine Missionsarbeit eine fähige, tatkräftige Frau braucht. Und er versucht mithilfe psychischer und geistlicher Manipulation in übergriffiger Weise, Jane davon zu überzeugen, dass es gewissermaßen ihre Pflicht sei, dem, was sie sich wünscht, zu entsagen, um des höheren Zieles willen. Der dahinter stehende Liebesbegriff ist völlig verzerrt, wie Jane intuitiv zu verstehen beginnt. Zugegeben: Das mag in puritanischen und calvinistischen Kreisen häufiger sein, und in der Vergangenheit üblicher gewesen als heutzutage (wobei ich mit pauschalen Aussagen hier vorsichtig wäre – „heutzutage“ ist oft erstaunlich wenig anders als „früher™“.) Heute ist jedoch definitiv sehr verbreitet, unter Liebe zu verstehen „Was immer man will“ gutzuheißen, ganz gleich, ob sich selbst oder dem Nächsten gegenüber. Als praktizierender und denkender Christ kann man noch so häufig darauf hinweisen, dass die Liebe einer Frau sich nicht darin erweist, dass sie ihr Kind vors Auto rennen lässt, oder dem abhängigen Ehemann die Drogen zu besorgen, die er will und in einem gewissen Sinne ja auch „braucht“: Obwohl es eigentlich einsichtig ist, dass ein solcher Liebesbegriff nicht der Wahrheit entsprechen kann, wird einfach lieber nicht mehr so genau darüber nachgedacht, was Liebe ist, und wie sie sich konkret erweist oder eben auch nicht.

Wer ist mein Nächster?

Ein anderer Stolperstein auf dem Weg zur Nächstenliebe ist die Frage, wer denn mein Nächster ist. Auf den ersten Blick sieht das vielleicht wie eine idiotische Frage aus. Dem guten Samariter war doch völlig klar, dass der unter Räuber gefallene hilflose Mann derjenige war, dem er helfen musste – ich lasse jetzt mal aus, dass Jesus ja die Pharisäer nicht nach dem Hilfsbedürftigen als „Nächstem“ fragt, sondern nach dem Samariter, der dem Hilflosen „der Nächste“ war. Aber es sei zumindest mal erwähnt.

Ja nun. So einfach ist das eben nicht, da wir im echten Leben selten mit nur einem unter die Räuber Gefallenen zu tun haben. Da haben wir auch die Räuber, die auch der Liebe bedürfen, und oftmals selbst gezeichnet sind; von Unheil das ihnen angetan wurde, und das sie zu dem gemacht hat, was sie geworden sind, und vom Unheil, das sie selbst verübt haben. Und natürlich treffen wir an allen Ecken und Enden auf Versehrte in diesem „Feldlazarett“ Kirche, und sehen uns zur Triage genötigt, weil Hilfe für den einen zu bedeuten scheint, einen anderen verbluten zu lassen. In Sachen Liebe geht es nicht um Interessenausgleich, sondern darum, jedem gerecht zu werden. Das ist eine zuweilen überfordernde Aufgabe.

Niemand ist der Liebe unwürdig

Die Versuchung hier ist, entweder dem Räuber mehr Zuwendung angedeihen zu lassen, als dem Verwundeten, oder aber so zu tun, als sei der Räuber der Liebe nicht würdig. Beides ist falsch. Unter Christen heute in Deutschland ist aber vor allem Ersteres virulent, weil wir durch viele Jahrzehnte sozialisierenden Glaubens dahin erzogen wurden, dass der gute Christ sich um alle zu kümmern hat. „Alle“ läuft aber zumeist auf die hinaus, die am lautesten sind, die auffallen, die sichtbar sind. Der Christ, der mit seinem suchenden Blick die Gesellschaft auf hilfsbedürftige Nächste hin abscannt, hält eben da inne, wo sich ihm Bedürftigkeit darstellt. Und das führt sehr oft dazu, dass nur eine Seite Beachtung findet, und das stumme Leid in der Versenkung verschwindet.

Wenn die Wahrheit wie Feuer ist

Zu abstrakt? Ich will zwei Beispiele nennen, um zu illustrieren, was ich meine. Da sind z.B. die Wiederverheirateten. Bischöfe, ZDKler ud Synodale werden nicht müde, deren Leid angesichts des Ausschlusses von der Heiligen Kommunion (leiblicherweise, geistige Kommunion steht ja jedem offen) zu betonen. Völlig außerhalb des Sichtfeldes, jedenfalls wenn man sich die Verlautbarungen anschaut, scheinen jene zu sein, die ihrem Eheband treu und deshalb alleine bleiben. Ich musste mich vor einigen Monaten in einem Gespräch arg zusammenreißen, weil ein sehr netter, lieber und liebevoller Christ, dessen beste Beweggründe ich auf gar keinen Fall anzweifeln würde, mir sagte, es sei doch auch für den Verlassenen ganz toll, wenn er dann endlich auch loslassen und neu anfangen könne. In der Lesung am Sonntag habe ich die Worte Jeremias in ihrer ganzen akuten Schmerzhaftigkeit erfasst, wenn er sagt, dass er versucht, Gott links liegen zu lassen, die Wahrheit, die er kennt, nicht mehr zu sprechen, aber dass ihm dann eben die Eingeweide verbrennen würden, dass es nicht zum Aushalten sei. Das Problem ist, dass Menschen, die dieses Problem nicht kennen, weil sie zufällig das bekommen, was sie sich wünschen (oder weil ihr Geist so lasch ist, dass sie ohne schlechtes Gewissen „Gott einen guten Mann sein lassen“ können), davon ausgehen, dass Menschen, die gegen ihre tiefsten Sehnsüchte an der Wahrheit Christi bis zum Martyrium festhalten – und lebenslange Einsamkeit, wenn man zur Ehe berufen ist, ist ein Martyrium – halt bloß einfach stur seien, irgendwie ein masochistisches Gottesbild hätten, usw. Solche Leute sind buchstäblich wie Petrus, der zu Jesus sagt „Ne, also, mein Lieber, du musst gar nicht so leiden, wie du dir das vorstellst, komplett unnötig, nein, sogar völlig unangemessen.“. Wer verstanden hat, was die Ehe ist, kann eben nicht mehr „einfach loslassen“ und sich jemand andern suchen, weil die Realität Gottes, an die er sich gebunden hat, wirklicher und realer ist, als jede noch so tiefe eigene Sehnsucht. Dieses Leiden an Gottes Wahrheit zu verschweigen, ist meiner Ansicht nach eines der größten Probleme innerhalb der Kirche, und zwar interessanterweise sowohl in synodalen als auch in neuevangelistischen Kreisen – weil letztere in der Verkündigung natürlich (und das ist auch völlig richtig so) mit den Mitteln und in der Sprache unserer Zeit zu sprechen suchen. Und unsere Zeit ist besoffen von der Ansicht, dass uns alles zustünde, was wir haben wollen. Wenn jemand das, was er wirklich will, nicht bekommt, muss es also an ihm selber liegen, auf die eine oder andere Weise. Hiobs oder Jeremias Probleme sind für beide Seiten schwer zugänglich und werden lieber verdrängt. Was dazu führt, dass Menschen, die ähnliche Probleme haben, seelsorgerlich komplett im Regen stehen gelassen werden.

Nun müssen solche Menschen schon ertragen, dass andere das „Glück“ haben, ihre Ehe annullieren lassen zu können. Und dann müssen sie auch noch zusehen, wie die Kirche, die eigentlich zuvörderst ihr Leid mittragen und tröstend begleiten sollte, sich von ihnen abwendet, um sich dem Leiden jener zuzuwenden, die vor allem durch die eigene Sünde der Gemeinschaft des Leibes und Blutes Christi entsagen müssen. Damit will ich (s.o.) nicht behaupten, dass Wiederverheiratete durch die Wiederheirat des Anrechtes auf Nächstenliebe und seelsorgerliche Begleitung verlustig gingen. Sondern, dass es eine große Versuchung ist, weil sie die größere Lobby haben, und weil es generell angenehmer ist, Menschen zu ihrem Glück zu verhelfen, als ihr Leid hilflos mittragen zu müssen, hier einfach den einen Nächsten links liegen zu lassen. Der allerdings viel weniger Hilfe hat als die Nächsten, die einem auffallen.

Ein zweites Beispiel ist das, das mich eigentlich zu diesem Artikel inspiriert hat, weil es mich seit einiger Zeit bewegt: Die queere Community, und insbesondere die Translobby. Ich bin davon überzeugt (und wie ich schon öfter angemerkt habe, finden das nicht alle in meiner „Bubble“ gut), dass das Leiden von Transsexuellen und anderen, die mit ihrer Leiblichkeit und/oder Sexualität nicht klarkommen, echtes, gravierendes Leiden ist, das der Begleitung bedarf. Insbesondere der Verdacht, dass es vorrangig selbstinduziertes Leiden sei, ist hier meiner Ansicht nach selten angebracht (und wie gesagt in dem Sinne auch irrelevant). Wir leben einfach in einer Zeit umfassender Verwirrung und ich meine, wer hier den klaren Blick behält, sollte Gott für dieses Gnadengeschenk preisen, nicht es für Standard halten.

Die Schwachen in den Brunnen werfen?

Ja, es geht mir wieder um das Selbstbestimmungsgesetz, das mir einfach keine Ruhe lässt. Eine Lösung, die echten Transsexuellen hilft, die sie vielleicht sogar vor Operationen bewahrt, weil dem Einen oder Andern die rechtliche Anerkennung Ruhe verschafft, ohne Abhängigkeit von Sachverständigen und Bürokraten: All das ist aus meiner Sicht aus politischer und rechtlicher Sicht anzustreben. Aber es wäre erreichbar, ohne das Lebensglück und die körperliche Unversehrtheit von Kindern, Jugendlichen und unreifen jungen Erwachsenen aufs Spiel zu setzen. Meiner Ansicht ist daher eine Zustimmung zu dem Gesetzentwurf, wie sie vom ZDK geäußert wurde, nur atemberaubender Naivität und Blindheit gegenüber der real existierenden sozialmedialen Welt der Influencer zu verdanken. Dass der Gremien- und Funktionärskatholizismus sich damit genau null (0) damit auskennt, sieht man an der unzeitgemäßen, unattraktiven und an aktuellen Entwicklungen desinteressierten Online- und Social Media-Arbeit in diesem Bereich (Disclaimer: Ja, auch ich bin unzeitgemäß und desinteressiert an diesen Entwicklungen, aber zumindest unterschätze ich sie nicht. Und ich behaupte ja auch nicht, Anwältin der Zeichen der Zeit zu sein).

In den Stellungnahmen des ZDK wird mit keinem Wort und keiner Zeile der Schutz von zufällig nicht transsexuellen Kindern auch nur in Erwägung gezogen (auch der Schutz von Frauen nicht, aber selbst ist die Frau, da will ich jetzt mal nicht jammern). Ganz genau: Die Tatsache, dass Kinder als „vulnerable Personen“ (das ist dem ZDK durchaus klar), ihrer Peer Group, den Influencern, dem Zeitgeist und den Marotten ihrer Eltern in besonderer Weise ausgesetzt sind, ist dem ZDK keine einzige Zeile wert. Wer eine gefunden hat, möge sie mir bitte zuleiten, ich wäre dankbar, dieses Verdikt widerrufen zu dürfen; denn mir geht es wirklich nicht um Bashing. Ich bin einfach nur entsetzt, wie man der Ansicht sein kann, man müsse, um einem Nächsten zu helfen, einen anderen Nächsten in den Brunnen werfen.

Hier zeigt sich dieselbe fatale Verschiebung wie im Fall der Wiederverheirateten: Der Nächste, der weniger sichtbar ist, und, in diesem Fall besonders evident, mit dessen Schutz ich mir weniger leicht verdiente moralische Lorbeeren hole, dessen Schutz sich weniger glamourös, zeitgemäß oder sophisticated anfühlt, wird im Stich gelassen.

Also: Ja, wir müssen darüber nachdenken, was Liebe eigentlich ist, wenn wir unseren Nächsten lieben wollen. Wir könnten aber auch öfter mal darüber nachdenken, wer eigentlich wann und in welcher Beziehung unser Nächster ist.

Heiliger Johannes Bosco, bitte für uns, heilige Mutter Teresa, bitte für uns.

*Jeremia im Wortlaut: Sagte ich aber: Ich will nicht mehr an ihn denken / und nicht mehr in seinem Namen sprechen!, so brannte in meinem Herzen ein Feuer, / eingeschlossen in meinen Gebeinen. Ich mühte mich, es auszuhalten, / vermochte es aber nicht. (Jer 20,9)