Früher hart, heute zart – Wann wurde die Kirche barmherzig?

Das Schreiben, in dem die nigerianische Bischofskonferenz sich zu Fiducia Supplicans äußert, endet mit den Worten AMEN! WE WISH EVERYONE A MERRY CHRISTMAS (Ja, genau, in Kapitälchen). Für mich klingt das wie: „Get the f* back to what actually matters!“, und es ist für mich einer der ikonischsten Sätze dieses Jahres, denn genau das sollten wir alle tun: Weihnachten feiern.

Ich möchte aber im Aftermath der Veröffentlichung dieses Schreibens doch noch ein paar Worte verlieren. Um es von vornherein zu sagen: Meiner Ansicht nach (zum jetzigen Zeitpunkt, vielleicht ändere ich meine Meinung, wenn ich noch länger darüber nachdenke) sagt Fiducia Supplicans im Wortlaut nichts anderes, als was eh schon fast überall gemacht wird – ich schreibe „fast“, weil man bestimmt irgendwo auf dieser Welt, womöglich in einem hinterletzten münsterländischen Dorf, wo man nicht tot überm Zaun hängen will, einen verknöcherten Priester finden wird, der einen homosexuellen Menschen ohne Segen wegschicken würde. Es gibt einfach nichts, was es nicht gibt. Aber die Regel in der katholischen Kirche ist, dass alle Menschen, die einen Segen erbitten, einen bekommen. Mehr noch: Es bekommen sogar Leute einen Segen, die keinen erbitten. Wir segnen alles und jeden, und zwar ständig. Wenn ich Priester oder Bischöfe treffe, kommt es öfter vor, dass ich sie um ihren Segen bitte. Noch nie hat mich davor einer gefragt „Sind Sie homosexuell, wiederverheiratet oder sonst irgendwie irregulär unterwegs?“. Nö. Die meisten freuen sich und üben ihr Amt mit großem Ernst aus. Ich habe auch schon beobachtet, wie andere auf Geistliche zugegangen sind, und gesegnet wurden. Selbst bei der Kommunionausteilung kann man nach vorn gehen, und sich segnen lassen – obwohl man z.B. Protestant oder sogar Atheist ist, oder nicht kommunizieren kann, weil man in schwerer Sünde steht.

Ich möchte an dieser Stelle (s. nigerianische Bischofskonferenz) nicht darauf eingehen, dass Zeitpunkt, kirchenpolitisches und zeitgeistiges Umfeld maximal ungünstig sind, und möchte auch von gewissen Zweideutigkeiten schweigen; ohnehin weiß man nicht, wie der Vatikan den angerichteten Schlamassel – Afrika auf den Barrikaden, Autorität des Dikasteriums, lasst uns Klartext reden: auch des Papstes, beschädigt – wieder in Ordnung bringen wird; da werden wir im Neuen Jahr wahrscheinlich noch einiges mitbekommen.

Ein Punkt aber ist meiner Ansicht nach besonders gefährlich, weil er eine Lesart der Kirchengeschichte aufgreift, die verbreitet, aber falsch ist. Diese geht ungefähr so: Früher™ war die Kirche herrschsüchtig, rachsüchtig, böse, unfair und unbarmherzig. Seit dem Zeitpunkt x ist sie demütig, nachsichtig, freundlich, barmherzig und *nett*. Für x wird für gewöhnlich „das Zweite Vatikanum“ eingesetzt. Viele Menschen, sogar Theologen, glauben tatsächlich, die Kirche habe sich mit dem Zweiten Vatikanum so verändert, dass sie jetzt endlich eine liebe Kirche sei. Das ist natürlich Blödsinn. Die Kirche ist nie einfach nur „nett und lieb“, weil lieb und nett eigentlich nie ohne Preisgabe der Wahrheit funktioniert. Wenn man nie Anstoß erregen will, wird man dem Gegenüber verschweigen, dass er einen riesigen Fleck auf dem Hemd hat, denn das würde bei ihm womöglich ein unangenehmes Gefühl bewirken, und das will man nicht, wenn man lieb und nett ist. Die Kirche ist aber der Wahrheit ebenso verpflichtet, wie der Liebe, ja, sie ist der Wahrheit verpflichtet, weil sie der Liebe verpflichtet ist, und weil Liebe und Wahrheit in Gott zusammenfallen: Wer um den Fleck auf dem Hemd weiß, kann sich ein anderes anziehen oder sich kurz ins Bad zurückziehen, und ihn auswaschen – und der ist hinterher froh, dass ihn jemand auf diese Peinlichkeit hingewiesen hat.

Die Kirche hat Nachsicht und Barmherzigkeit nicht vor 60 Jahren entdeckt. Man lese nur die Kirchenväter, oder auch die großen Seelenführer und Pädagogen wie Franz von Sales: Man ist manchmal verblüfft, wie klar und präzise ihr Blick auf den Menschen und seine Seele war, und wie einfühlsam sie sich um die Menschen gekümmert haben.

Übrigens gehört ja paradoxerweise zu den protestantischen Kritikpunkten an der katholischen Kirche, dass sie viel zu nachsichtig gegenüber dem Sünder sei, viel zu lax, viel zu laissez-faire und Fünfe-Gerade-Sein-Lassen. Das wird nur immer dann vergessen, wenn es gerade anders besser passt.

Nun ist der neueste Spin dieses Narrativs, dass die Kirche seit dem gegenwärtigen Pontifikat lieb, nett und barmherzig sei. Mitte Dezember kam eine Antwort auf ein komplett absurdes Dubium heraus, und zwar ging es um die Frage, ob ledige Mütter die Kommunion empfangen dürften. Natürlich dürfen sie das, und bis auf den verknöcherten Priester in besagtem münsterländischen Dorf ist das auch jedem klar. Absurd ist das Dubium u.a., weil es von einem Bischof aus der Karibik kam. Nun kann ich mir vorstellen, dass in Ländern, in denen das Christentum noch nicht so lange verbreitet ist, gewisse Tabu-Vorstellungen etc. eine Rolle spielen trotz Christianisierung, und dass es dort Priester gibt, die tatsächlich meinen, eine unverheiratete Frau mit Kind dürfe nicht zur Kommunion gehen. Aber ein Bischof sollte doch an dieser Stelle keinen Zweifel (lat. „dubium“) haben, sondern im Gegenteil, ein Hirtenwort für seine Diözese verfassen, in dem er den Priestern einschärft, dass sie ihren heidnischen Quark zuhause lassen sollen. Es wäre, wenn nötig, seine Aufgabe darauf hinzuweisen, nicht die des Vatikans.

Denn eine ledige Mutter hat zwar sichtlich eine Sünde begangen, als sie außerehelich Sex hatte (ihr kann man das aufgrund des Kindes halt nachweisen, was mal wieder einigermaßen unfair ist, schließlich hat sie nicht mehr falsch gemacht als der Kindsvater). Aber es gibt keinen Grund, warum sie das nicht beichten, und dann auch wieder zur Kommunion gehen sollte, wie jeder von uns nach jeder begangenen und bereuten Sünde und erfolgten Absolution. Bloß: Die wenigsten Menschen kennen die Regeln der Kirche, wissen, wie Vergebung und Absolution funktionieren. Da die meisten aber wissen, wie die Kirche zu außerehelichem Sex steht, und weil in der Welt außerhalb der Kirche Vergebung eine Seltenheit ist, ist verständlich, dass der Normalo-Ahnungslose davon ausgeht, dass, wenn der Vatikan ein solches Schreiben rausschickt, vorher ein Verbot für ledige Mütter bestanden habe. Der Effekt ist also: „Endlich bewegt sich die Kirche! Endlich wird sie menschlich“. Bloß: Eigentlich ist gar nichts passiert. Das Dubium hätte auch fragen können „Ist Jesus Gottes Sohn“, und der Vatikan hätte geantwortet „Jesus ist Gottes Sohn“. Das wäre eine korrekte Feststellung, aber nicht wirklich neu. Oder: „Darf man als Katholik Schokolade essen?“ „Ein Katholik darf Schokolade essen.“ Weltbewegende Erkenntnis seitens des Vatikan, oder?

Fiducia Supplicans haut in dieselbe Kerbe, weil das, was hier als erlaubt beschrieben wird, ohnehin gemacht wird, und zwar ohne Aufhebens: Jederzeit können homosexuelle Menschen oder Menschen, die in wilder Ehe oder promiskuitiv leben, spontan zum Priester gehen und einen Segen erhalten. Genau das will FS. Warum braucht man dann überhaupt ein Schreiben, wenn eh bereits getan wird, was da drin steht? Tjaaaaa, die einen sagen so (z.B.: Der Papst wolle die Lehre durch die Hintertür ändern), die anderen so (z.B.: Er wolle die Deutschen & ihre allies in ihre Schranken weisen); ich sag dazu erst mal nichts. Fakt ist: Leute, die keine Ahnung haben, denken jetzt: „Endlich ändert sich was! Endlich bekommen auch Schwule Gottes Segen zugesprochen!“ Das bekommen und bekamen sie aber eh.

Ich finde das sträflich, weil man den Leuten nicht dabei helfen sollte, ihre Nichtahnung zu verfestigen, indem man die Kirche nachträglich als schlechter „gewesen seiend“ (ist das Deutsch?) darstellt, als sie es war, nur um jetzt Lorbeeren einzusammeln für selbstverständliche Feststellungen, die ohnehin auch früher™ galten.

Außerhalb der Kirche bestärkt so etwas die Ablehnung, weil einem Nichtgläubigen sofort zwanzig andere Sachen einfallen, in denen die Kirche „immer noch“ „rückständig, unbarmherzig etc,“ ist. Was es innerkirchlich auslöst, sieht man ja gerade.

Um mit einer positiven Note zu enden, möchte ich an dieser Stelle auf das Geschenk hinweisen, Teil der Weltkirche zu sein: Ich z.B. weiß nicht mal, wo Malawi* liegt, aber ich weiß, dass sich in Malawi eifrige Bischöfe um das Heil meiner Seele und der Seelen aller Katholiken und aller Menschen kümmern. Das tut irgendwie echt gut. So behütet und beschützt, lässt sich doch gut die Weihnacht umarmen, in der die Güte und Menschenliebe Gottes in der Welt leibhaftig sichtbar wurden in Jesus Christus, Gottes Sohn. Nicht lieb und nett, sondern Weg, Wahrheit und Leben. Möge Sein Segen immer mit uns sein, egal in welcher Lebenslage. In diesem Sinne möchte ich mit den Worten der nigerianischen Bischofskonferenz schließen: AMEN! WE WISH EVERYONE A MERRY CHRISTMAS.

Heiliger Thomas Morus, bitte für uns!

*Malawi gehörte zu den ersten Ländern, deren Bischöfe sich unmissverständlich zu FS geäußert haben.