Die Revolution frisst ihre Kinder

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: Frankreich gilt als einer der Wegbereiter der Moderne. Mit seinen Denkern der Aufklärung, die die Zerstörung der Alten Ordnung vorbereiteten, und mit der Französischen Revolution, die sie vollendete. Volk statt König, Vernunft statt Gott, so wird die Revolution oftmals verkürzt und oberflächlich eingeordnet; Schwarze Legenden über die eitle und verschwenderische Königin Marie-Antoinette sollen die Ermordung des Königspaars weniger infam anmuten lassen; die Greuel in der Vendée werden vorsichtshalber von den Schulbüchern nur kurz thematisiert – nicht, dass jemand auf den Gedanken käme, der Inbegriff des Fortschritts sei womöglich gar nicht so fortschrittlich gewesen, sondern vielleicht gar ein Rückfall in die Barbarei. Kollateralschäden um einer strahlenden Zukunft willen?

Vernunft statt Gott. Tatsächlich hat man in Frankreich schon zur Revolutionszeit die Vernunft mit Gott ersetzt: 1793 wurde eine als die Göttin Vernunft verkleidete „citoyenne“1 in einer Prozession durch die Straßen von Paris paradiert, in Notre-Dame de Paris wurde ihr ein Altar errichtet.

Im Hebräischen ist das Wort für Götze gleichbedeutend mit „nichtig“. Das Volk Israel hat das Wesen der falschen Götter genau erfasst: Das, was wir vergötzen, wird nicht nur nicht Gott oder gottgleich, es verliert seine eigene Natur und stürzt ins Nichts. In dem Versuch, die Vernunft zur Göttin zu erheben, haben die revolutionären Massen die Vernunft gestürzt und zunichte gemacht, sie vernichtet.

Der Blutdurst, die Massaker, der absurde Hass gegen alles Althergebrachte: Rasende Unvernunft, eine Orgie der Gewalt. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: Ja, befreit von Recht und Ordnung sind alle gleich vor der Guillotine, und im Tod alle Brüder.

Die Fünfte Republik, führt nun fort, was 1789 begann: Die Erhebung eines „Rechts“ auf Abtreibung in Verfassungsrang ist nicht nur ein Akt der Erbarmungslosigkeit und des Egoismus, es ist auch ein Akt wider die Vernunft:

Wir müssen noch nicht von Gott reden, um zu begreifen, dass angesichts schrumpfender Bevölkerungszahlen in Europa die Tötung hunderttausender Kinder pro Jahr Wahnsinn ist. Und wir müssen uns nicht zu einer Religion bekennen, um zu verstehen, dass hier eine Pervertierung des Rechts geschieht, die über kurz oder lang alle teuer zu stehen kommen wird: Wenn der Schwächste nicht geschützt ist, ist niemand geschützt. Kein Menschenrecht ist etwas wert, wenn du nicht leben darfst.

Wenn Politiker beschließen können, dass es rechtens sei, Menschen zu töten, weil sie sehr klein, sehr hilflos, und im Leib ihrer Mutter sind, dann können Politiker auch jeden anderen Parameter als zur Tötung berechtigend definieren. Hat die Mehrheit keine Lust mehr, mit Muslimen zusammenzuleben: Nun, die Verfassung, die dem Muslim sein Lebensrecht zuspricht, kann es ihm doch auch absprechen. Wir wollen für Behinderte, Alte, Kranke nicht zahlen? Was hindert uns daran, Nützlichkeit, oder die Funktionsfähigkeit bestimmter Organe zur Bedingung zu erheben, die menschliches Leben lebens- und schützenswert macht?

Es ist ein absoluter Dammbruch, der hier geschieht: Das Böse wird zum Guten erklärt, Lüge zur Wahrheit, Unrecht zu Recht. Eine lebensmüde Gesellschaft will den Ungeborenen den Überdruss, den sie empfindet, ersparen. Die Mutter wird zur Herrin über Leben und Tod des Kindes erklärt. Und damit alles, was die Mutter gefangen hält: Soziale Konvention, finanzielle Bedrängnisse, der Partner, der das Kind nicht will, die eigene Verantwortungslosigkeit im Umgang mit Sexualität: All dem wird das Ungeborene Kind zum Fraß vorgeworfen. Ein Zivilisationsbruch, der seinesgleichen sucht. Was mich vor allem bewegt, ist die Frage, warum die Menschen in Europa das Leben so sehr hassen. Gerade die begüterten, gebildeten, wohlsituierten Menschen: Was lässt sie einen derartigen Hass auf das Leben verspüren, dass sie es für vertretbar und sogar geboten halten, Mütter zu Henkern zu machen?

Postclaimer: Man soll eigentlich zuerst vor der eigenen Haustür kehren. Dass in Sachen Marsch für das Leben ausgerechnet jetzt aus den Reihen der deutschen Bischöfe gefragt wird, „ob es tatsächlich genau diese Form der Präsenz“ sei, die den Anliegen des Lebensschutzes „in unserem deutschen Kontext am besten dient“, 2zeigt eine Prioritätensetzung, die ich zumindest als fragwürdig empfinde.

Heilige Anna, bitte für uns. Heiliger Johannes Paul II, bitte für uns. Heiliger Erzengel Michael, bitte für uns.

  1. Ihr kennt meine Affinität zur Quellenangabe (Ironie off): Ich habe mal in einem kleinen Taschenbuch mit Primärquellen zur Französischen Revolution einen alles andere als vergnüglichen Brief eines Zeitzeugen gelesen, in dem er schildert, wie er bei einer Reise nach Paris um ein Haar zu Schaden gekommen wäre, weil er aus Gewohnheit einen Mann als „monsieur“ – [mein] Herr – angesprochen hatte, und sich damit in den Augen der Anwesenden als Konterrevolutionär entlarvt hatte, da man schließlich jeden als „citoyen“ – Bürger – anzusprechen hatte Absolut dystopische Zustände. ↩︎
  2. Bischof Stefan Oster, aus Oberfaulheit der Blogautorin flugs zitiert aus der Tagespost ↩︎