Heuchelei und Schwäche

Das letzte Gespräch mit einem Atheisten könnte Bände füllen, jedenfalls dient es als unerschöpfliche Quelle der Inspiration. Was mir immer wieder auffällt, ist, dass man, wenn man die Kirche nicht mag, alles gleichermaßen gegen sie verwenden will.

Kleiner O-Ton: „Dann verurteilst du auch Homosexuelle?“ „Nein, ich sage, dass homosexuelle Akte objektiv schwer sündhaft sind.“ „?“ „Ob etwas schwere Sünde ist, kann ich nicht mit letzter Sicherheit feststellen, weil ich ins Menschenherz nicht hineinschauen kann, und damit etwas schwere Sünde sein kann, muss es mit vollem Wissen und Willen geschehen. Das kann ich nicht feststellen. Darum kann ich niemanden verurteilen.“ „Man kann es sich auch einfach machen.“

Ja. Das war die Antwort! Also: Dass ich als Katholikin den Menschen nicht verurteile, dass ich seine Taten objektiv zu betrachten versuche, aber ohne deshalb den Menschen zu verdammen, das wird mir ebenso angekreidet, wie mir mit Sicherheit angekreidet würde, wenn ich Menschen ob ihrer Taten verurteilen würde.

Wobei – vielleicht auch nicht! Der moderne säkulare Mensch neigt viel mehr als der Katholik jeglicher Zeit dazu, den Menschen nach seinen Taten zu bewerten. Die tatsächliche katholische Haltung wäre vielen Menschen viel zu „lax“. Denn sie selbst halten es für total normal, einen Menschen anhand seiner Taten, Gedanken und Einstellungen zu verurteilen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die Scharia mit ihrem einfachen Ansatz, Gottes Recht zur menschlichen Justiz zu formen, dem säkularen System näherliegt als der katholische Fokus auf dem Gewissen und der persönlichen Gottesbeziehung!

Aber Spekulationen beiseite (Spekulatius dagegen ist so langsam wieder statthaft…): Der säkulare oder nicht katholische Mensch hat also ein Problem damit, zu unterscheiden zwischen Lehre, Mensch und Tat. Deshalb kann er auch nicht unterscheiden zwischen Schwäche und Heuchelei. So wird jede Schandtat eines katholischen Menschen zur katholischen Schandtat. Dabei ändert ja die Kirche ihre Lehre nicht, bloß, weil ein Katholik Böses tut. Im Gegenteil. Spannenderweise hat sie z.B. auch dann an ihrer Morallehre festgehalten, als Päpste Kinder hatten. Und kein Mord eines Katholiken wird als weniger schwerwiegend betrachtet, weil ein Katholik die Tat ausgeführt hat. Im Gegenteil. Da man davon ausgeht, dass ein Katholik weiß, was dem Heile dient, ist es eher wahrscheinlich, dass seine Schuld schwerer wiegt als die eines Nichtkatholiken.

Es ist also in hohem Maße unlogisch, die Kirche zu verurteilen für gegen ihre Lehre durchgeführte Greuel. Natürlich kann man damals Verantwortlichen jeweils vorwerfen, nicht genügend streng, eindringlich oder effektiv auf die Einhaltung der Lehre gedrängt zu haben (etwa zur Zeit der Hexenverfolgung vehementer gegen Aberglauben vorzugehen). Aber schauen wir doch nur heute, wie viele unserer Bischöfe sich trauen, gegen Missstände der Zeit laut das Wort zu erheben?! Der Mangel an Mut und Zeugnisbereitschaft ist also wirklich zu beklagen und zu verurteilen, aber meistens individuell, und wenn tatsächlich institutionell – etwa, weil besonders viele Bischöfe oder Priester durch Tat oder Unterlassung schuldig geworden sind – dann dennoch allein auf die Schwäche der Glieder des Leibes Christi bezogen, nicht auf die heilige Kirche an sich, und schon gar nicht auf ihre Lehre, die sich ja wie gesagt um kein Iota ändert wegen der Schändlichkeit ihrer Vertreter.

Dementsprechend ist es noch unlogischer, von individuellem Fehlverhalten eines Katholiken in moralischen Fragen auf die Lehre zu schließen, denn diese sagt ja gerade aus, dass jeder, ob katholisch oder nicht, Sünder ist. Und ohne die Maßstäbe der Kirche, die besagen, ob ein Verhalten Fehlverhalten ist, wäre es ja gar nicht möglich, Sünde zu identifzieren.

Es ist auch keine Heuchelei, wenn ein Mensch zu schwach ist, um sich an das zu halten, was er als gut erkennt: Natürlich kann ein Mensch z.B. unfähig sein zu leben ohne zu lügen, und dennoch jedes Mal, wenn er lügt, echte Reue darüber empfinden und sehr wohl von Herzen einsehen, dass er sich falsch verhält.

Je länger ich in einem säkularen Umfeld lebe, desto mehr empfinde ich den Mangel an Empathie mit der Schwäche des Menschen, das fehlende Wissen um den Unterschied zwischen dem Fall aus Schwäche und der Instrumentalisierung moralischer Vorstellungen für eigene Verbrechen, als Damoklesschwert, das über der zivilisierten Gesellschaft schwebt. Denn erstens wird dadurch ausnahmslos jeder zum Heuchler. Zweitens würde jeder Wert, jedes als gut erkannte Verhalten, seinen bindenden Wert verlieren, wenn es nur dadurch verbindlich würde, dass man es jederzeit zu 100% erfüllen kann!