Falsche Bescheidenheit & echte Heuchelei

Das Evangelium des vergangenen Sonntags ist ein gefährliches. Jesus spricht darin über Heuchelei, und gibt einige praktische Beispiele dafür, wie manche Menschen sich verhalten, und dass man es nicht nachmachen solle. So weit so gut. Nun bin ich gerade bei solchen „leicht anwendbaren“ Texten froh, dass ich nicht evangelisch bin. Es besteht nämlich die – verständliche – Versuchung, den Text als 1:1 Anweisung zu lesen, und nur auf der Sachebene zu bleiben. Tatsächlich sollte man gerade bei solchen Stellen im Kopf behalten, dass die Bibel keine Gebrauchsanweisung ist! Meiner Ansicht nach sollten wir hier eher bei den Kirchenvätern in die Lehre gehen, statt bei protestantischen Predigern.

Gleich zum Eingang sei gesagt, dass eines der größten Probleme beim Anprangern von Heuchelei ist, dass man darin ganz schnell selbst zum Heuchler wird. Einfach von einer Äußerlichkeit auf Heuchelei zu schließen, ist wahnsinnig heikel. Man sollte immer nach der Motivation fragen.

Auf dem Stuhl des Mose sitzen die Schriftgelehrten und die Pharisäer. Tut und befolgt also alles, was sie euch sagen, aber richtet euch nicht nach ihren Taten; denn sie reden nur, tun es aber nicht. (…)
Alles, was sie tun, tun sie, um von den Menschen gesehen zu werden: Sie machen ihre Gebetsriemen breit und die Quasten an ihren Gewändern lang, sie lieben den Ehrenplatz bei den Gastmählern und die Ehrensitze in den Synagogen (…)

Mt 23, 2-3 u. 5-6

Wenn Jesus sagt, dass die Heuchler ihre Gebetsriemen breiter machen, um als die besseren Gläubigen zu wirken, dann ist das Problem nicht der breitere Riemen, sondern die Intention, mit der er angefertigt und getragen wird: „um gesehen zu werden.“ Er sagt also gerade nicht, jeder, der breitere Riemen trage, sei deshalb ein Heuchler! Genau dieser Halbsatz wird aber gern in der Auslegung unterschlagen, und das Augenmerk auf die äußere Handlung gelegt.

Im heutigen Glaubensleben gibt es zuhauf Verhaltensweisen, die heuchlerisch sein könnten, es aber nicht sein müssen. Man kann die Gebetsriemen ja „übersetzen“: Menschen, die besonders viel frommen Schmuck tragen, die ihren Rosenkranz öffentlich beten, die besonders exaltiert beten – all das kann durchaus Heuchelei sein. Muss es aber nicht. Darum ist es fatal, zu denken: „Jesus gibt hier Beispiele für Heuchelei aus dem damaligen Glaubensalltag, wenn wir nach ähnlichen Dingen im heutigen Glaubensalltag suchen und geißeln, haben wir Jesu Anspruch erfüllt.“

Ich will einige weitere Fallstricke anhand der Predigt aufzeigen, die ich am Sonntag zu diesem Schriftabschnitt anhören musste. Der Priester, dem ich übrigens seine Liebe zu seiner Berufung absolut abnehme, sprach zuerst davon, dass er keine Priesterkleidung bzw. keinen Priesterkragen tragen würde, aber niemals sein Priestersein leugnen würde. Seine Berufung sei Dienst, und dieser Dienst mache ihn zum Priester, nicht seine Kleidung. Das klingt erst einmal wahnsinnig bescheiden, und ziemlich richtig. Der kleine Stolperstein: Wenn mein Leben nicht nur Dienst bedeuten, sondern sein soll, dann verwirklicht sich das wie? Genau, in dem ich den Dienst tue. Im Falle eines Priesters bedeutet das oft, dass Menschen kommen, und seinen Dienst in Anspruch nehmen. Wie aber sollen sie das tun, wenn er nicht als Priester erkennbar ist? Wenn ich in Not bin, möchte ich gern auf den ersten Blick sehen, an wen ich mich wenden kann, und nicht laut über den Marktplatz rufen müssen „Ist hier jemand Priester?!?!?!“

Der absolut nachvollziehbare Impuls, nicht hierarchisch herausstechen zu wollen, führt dazu, dass der Diener gar nicht als Diener erkennbar ist! Ein Priester in Priesterkleidung wird angesprochen, er hat die Möglichkeit, Menschen anzusprechen. Ja, er stellt sich auch dem Martyrium, öffentlich angefeindet und verachtet zu werden. Aber auch darin steht er in der Nachfolge Christi!

Ironischerweise ist also der Effekt des Verzichts auf Priesterkleidung irgendwie passend zu dem, was Jesus über die Schriftgelehrten sagt: Tut, was sie sagen, aber nicht, was sie tun, denn sie tun nicht, was sie predigen: Der Priester sprach über Dienst, aber wie viele Male er sich selbst darum bringt, diesen Dienst tun zu dürfen, weil er die Menschen dazu zwingt, ihn kennen zu müssen, und ihn aufsuchen zu müssen, um sich von ihm dienen zu lassen, ist ihm sicher nicht klar. Ist er deshalb ein Heuchler? Das denke ich nicht. Ich denke, dass er nach bestem Wissen und Gewissen versucht, sein Priestertum zu leben, und dass es manchmal einfach besser ist, dem Wissen und Gewissen der Kirche zu trauen, als dem eigenen. Natürlich gibt es legitime Gründe, auf Priesterkleidung zu verzichten. Es mag auch missionarische Charaktere geben, die „inkognito“ gekleidet sind, und das nutzen, um die Menschen zu überraschen. Z.B. indem sie einen Abend lang mit einem witzigen, netten, zugewandten Menschen zusammen waren, der dann auch noch Priester ist – man glaubt es kaum. Allerdings ist hier die Gefahr groß, dass genau das passiert, was vermieden werden soll: Die Person erregt Aufsehen für sich, nicht für Jesus. Denn die Person zeigt durch die Ablehnung der Priesterkleidung, dass sie sich nicht mit der Kirche identifiziert. Die Menschen nehmen einen Priester ohne Priesterkragen wahr als jemanden, der sich von der Kirche abgrenzt. Das muss nicht die Intention sein, aber es ist der Effekt. Meiner Ansicht nach überrascht ein Priester seine Mitmenschen besser, indem er erkennbar Priester ist, und dann auch noch witzig, nett und zugewandt.

Es geht jedenfalls gar nicht, Priesterkleidung dem Verdacht auszusetzen, sie werde aus heuchlerischem oder Aufmerksamkeit heischenden Ansinnen getragen: Zumal sie eine Verpflichtung ist! Es erinnert mich ein wenig an die wildesten evangelikalen Vorurteile gegen Katholiken, wenn der Eindruck entsteht, die Kirche würde Priester gleichsam dazu zwingen, Heuchler zu sein. Zur generell falschen Definition von Heuchelei gibt es übrigens hier mehr.

Nun endete die Predigt nicht damit, dass der Priester uns erklärte, wie bescheiden er selber ist. Nein, er musste auch noch deutlich machen, wie unbescheiden andere sind – siehe meine Warnung vom Anfang, dass es sehr schwer ist, nicht selbst zum Heuchler zu werden, wenn man über Heuchelei spricht.

Der Priester bemängelte nun humorvoll auch das Bedürfnis seiner Mitmenschen, ihn als Father anzusprechen. Auch hier ein deutlich protestantischer Einschlag – bibeltreue Christen stellen gern in Frage, warum wir Katholiken Jesus angeblich ignorieren, und Kirchenväter haben, den Papst Vater nennen usw., obwohl wir doch nur einen einzigen Vater haben.

Ihr aber sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder.
Auch sollt ihr niemanden auf Erden euren Vater nennen; denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel.

Mt 23, 8-9

Ich frage mich, wie Kinder bibeltreuer Christen ihren – ähm – ja – XY-Chromosom-Elter nennen. Keine Ahnung. Aber das ist ein anderes Thema. Während ich bei der Einlassung über die Priesterkleidung noch die pragmatische Bescheidenheit eines charismatisch-missionarischen Priesters sehen konnte, und seine Einstellung trotz anderer Meinung tolerieren kann, war dann Schluss bei der spöttischen Karikatur der Menschen aus seinem Heimatdorf, inklusive seiner Mutter. Unbedingt wollten diese klerikalen Schafe ihn Father nennen! Er braucht das aber natürlich überhaupt nicht, aber gut, wenn sie unbedingt wollen, sollen sie es halt tun, und die Mutter dürfe ohnehin alles, sie sei ja schließlich seine Mutter. Diese Herablassung gegenüber dem Glaubensvolk bei gleichzeitiger „Leutseligkeit“! Gerade „einfache“ Gläubige haben oft einen sicheren Sinn dafür, dass sie im Priester das Heilige ehren wollen, dem er sich geweiht hat. Es ist ungemein wichtig, dass die Person nicht mit ihrer Funktion verwechselt wird. Aber es ist eben auch die Person, die unersetzliche Person, die zu diesem Dienst „Ja“ sagt. Die Anrede Father drückt unser Vertrauen in den Dienst des Priesters aus. Sie macht die himmlische Familie, der wir angehören, sichtbar. Wir sind eben keine Puritaner. Wir glauben, dass das Göttliche in der Welt sichtbar ist – verschleiert freilich, aber wirklich sichtbar. Der Priester ist kein Hochstapler, der sich eine Anrede anmaßt, die ihm nicht gehört. Er erlaubt, dass man durch ihn Christus sehen kann, und zwar in einer ganz spezifischen Art und Weise – auf andere Weise sehen wir Christus in den Armen, auf andere Weise in in Vater und Mutter, auf wieder andere in einem anderen Getauften; und noch einmal in anderer Weise sieht man ihn in einem gesalbten König. Keine dieser Arten, in denen wir Christus im Andern erblicken, ist gleich und durch die andere ersetzbar. Sie sind jeweils eigen und kostbar, so, wie sie eben sind.

Dass sich der Priester hier über das Verhalten seiner Mitdörfler nicht nur lustig macht, sondern sie auch noch indirekt der Heuchelei beschuldigt – er hat insinuiert, sie würden sich über die Anrede mit ihm schmücken – ist indes nicht besonders vertrauenerweckend. Wie soll ich mich ernstgenommen fühlen von einem Priester, der den Gläubigen einfach Motive unterstellt? Übrigens ist dies für mich gerade auch in seelsorgerlicher Hinsicht eine absolute red flag; und der Priester schien einer zu sein, dem Seelsorge sehr am Herzen liegt. Wenn dies tatsächlich die Einstellung seiner Mitmenschen ist, kann er sie nicht so locker stehen lassen, und woanders darüber spotten. Dann müsste er sie korrigieren. Und zwar nicht, indem er ihnen sagt, dass er diese Anrede nicht braucht. Denn hier geht es eben nicht um ihn. Ob er das braucht oder nicht, ist völlig irrelevant. Relevant ist, dass die Menschen, die ihn Vater nennen, dies mit der richtigen Intention tun, und nicht mit einer, die schon Jesus sehr deutlich verurteilt hat. Das sollte einem Priester doch eigentlich ein wichtiges Anliegen sein, oder nicht?

Ich habe in meinem Leben viele Priester kennengelernt, vor allem junge Priester, die mit Hingabe ihre priesterliche Kleidung tragen. Ihre „Güte“ als Priester musste ich indes nie am Priesterkragen ablesen, weil sie mir die Hingabe an ihren Dienst erwiesen haben: Indem sie ohne zu zögern spontan für eine Beichte bereitstanden, mir geduldig zugehört und guten Rat gegeben haben, weil sie mir ihren Segen erteilt haben. Weil sie von Kaffee bringen bis abspülen nach Aufgaben suchen, um sich zum Diener zu machen. Diese Priester beachten das gesamte Sonntagsevangelium, das mit folgenden Worten schließt:

Der Größte von euch soll euer Diener sein. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.

Mt 23, 11-12