Falsche Bescheidenheit & echte Heuchelei
Das Evangelium des vergangenen Sonntags ist ein gefährliches. Jesus spricht darin über Heuchelei, und gibt einige praktische Beispiele dafür, wie manche Menschen sich verhalten, und dass man es nicht nachmachen solle. So weit so gut. Nun bin ich gerade bei solchen „leicht anwendbaren“ Texten froh, dass ich nicht evangelisch bin. Es besteht nämlich die – verständliche – Versuchung, den Text als 1:1 Anweisung zu lesen, und nur auf der Sachebene zu bleiben. Tatsächlich sollte man gerade bei solchen Stellen im Kopf behalten, dass die Bibel keine Gebrauchsanweisung ist! Meiner Ansicht nach sollten wir hier eher bei den Kirchenvätern in die Lehre gehen, statt bei protestantischen Predigern.
Gleich zum Eingang sei gesagt, dass eines der größten Probleme beim Anprangern von Heuchelei ist, dass man darin ganz schnell selbst zum Heuchler wird. Einfach von einer Äußerlichkeit auf Heuchelei zu schließen, ist wahnsinnig heikel. Man sollte immer nach der Motivation fragen.
Auf dem Stuhl des Mose sitzen die Schriftgelehrten und die Pharisäer. Tut und befolgt also alles, was sie euch sagen, aber richtet euch nicht nach ihren Taten; denn sie reden nur, tun es aber nicht. (…)
Mt 23, 2-3 u. 5-6
Alles, was sie tun, tun sie, um von den Menschen gesehen zu werden: Sie machen ihre Gebetsriemen breit und die Quasten an ihren Gewändern lang, sie lieben den Ehrenplatz bei den Gastmählern und die Ehrensitze in den Synagogen (…)
Wenn Jesus sagt, dass die Heuchler ihre Gebetsriemen breiter machen, um als die besseren Gläubigen zu wirken, dann ist das Problem nicht der breitere Riemen, sondern die Intention, mit der er angefertigt und getragen wird: „um gesehen zu werden.“ Er sagt also gerade nicht, jeder, der breitere Riemen trage, sei deshalb ein Heuchler! Genau dieser Halbsatz wird aber gern in der Auslegung unterschlagen, und das Augenmerk auf die äußere Handlung gelegt.
Im heutigen Glaubensleben gibt es zuhauf Verhaltensweisen, die heuchlerisch sein könnten, es aber nicht sein müssen. Man kann die Gebetsriemen ja „übersetzen“: Menschen, die besonders viel frommen Schmuck tragen, die ihren Rosenkranz öffentlich beten, die besonders exaltiert beten – all das kann durchaus Heuchelei sein. Muss es aber nicht. Darum ist es fatal, zu denken: „Jesus gibt hier Beispiele für Heuchelei aus dem damaligen Glaubensalltag, wenn wir nach ähnlichen Dingen im heutigen Glaubensalltag suchen und geißeln, haben wir Jesu Anspruch erfüllt.“
Ich will einige weitere Fallstricke anhand der Predigt aufzeigen, die ich am Sonntag zu diesem Schriftabschnitt anhören musste. Der Priester, dem ich übrigens seine Liebe zu seiner Berufung absolut abnehme, sprach zuerst davon, dass er keine Priesterkleidung bzw. keinen Priesterkragen tragen würde, aber niemals sein Priestersein leugnen würde. Seine Berufung sei Dienst, und dieser Dienst mache ihn zum Priester, nicht seine Kleidung. Das klingt erst einmal wahnsinnig bescheiden, und ziemlich richtig. Der kleine Stolperstein: Wenn mein Leben nicht nur Dienst bedeuten, sondern sein soll, dann verwirklicht sich das wie? Genau, in dem ich den Dienst tue. Im Falle eines Priesters bedeutet das oft, dass Menschen kommen, und seinen Dienst in Anspruch nehmen. Wie aber sollen sie das tun, wenn er nicht als Priester erkennbar ist? Wenn ich in Not bin, möchte ich gern auf den ersten Blick sehen, an wen ich mich wenden kann, und nicht laut über den Marktplatz rufen müssen „Ist hier jemand Priester?!?!?!“
Der absolut nachvollziehbare Impuls, nicht hierarchisch herausstechen zu wollen, führt dazu, dass der Diener gar nicht als Diener erkennbar ist! Ein Priester in Priesterkleidung wird angesprochen, er hat die Möglichkeit, Menschen anzusprechen. Ja, er stellt sich auch dem Martyrium, öffentlich angefeindet und verachtet zu werden. Aber auch darin steht er in der Nachfolge Christi!
Ironischerweise ist also der Effekt des Verzichts auf Priesterkleidung irgendwie passend zu dem, was Jesus über die Schriftgelehrten sagt: Tut, was sie sagen, aber nicht, was sie tun, denn sie tun nicht, was sie predigen: Der Priester sprach über Dienst, aber wie viele Male er sich selbst darum bringt, diesen Dienst tun zu dürfen, weil er die Menschen dazu zwingt, ihn kennen zu müssen, und ihn aufsuchen zu müssen, um sich von ihm dienen zu lassen, ist ihm sicher nicht klar. Ist er deshalb ein Heuchler? Das denke ich nicht. Ich denke, dass er nach bestem Wissen und Gewissen versucht, sein Priestertum zu leben, und dass es manchmal einfach besser ist, dem Wissen und Gewissen der Kirche zu trauen, als dem eigenen. Natürlich gibt es legitime Gründe, auf Priesterkleidung zu verzichten. Es mag auch missionarische Charaktere geben, die „inkognito“ gekleidet sind, und das nutzen, um die Menschen zu überraschen. Z.B. indem sie einen Abend lang mit einem witzigen, netten, zugewandten Menschen zusammen waren, der dann auch noch Priester ist – man glaubt es kaum. Allerdings ist hier die Gefahr groß, dass genau das passiert, was vermieden werden soll: Die Person erregt Aufsehen für sich, nicht für Jesus. Denn die Person zeigt durch die Ablehnung der Priesterkleidung, dass sie sich nicht mit der Kirche identifiziert. Die Menschen nehmen einen Priester ohne Priesterkragen wahr als jemanden, der sich von der Kirche abgrenzt. Das muss nicht die Intention sein, aber es ist der Effekt. Meiner Ansicht nach überrascht ein Priester seine Mitmenschen besser, indem er erkennbar Priester ist, und dann auch noch witzig, nett und zugewandt.
Es geht jedenfalls gar nicht, Priesterkleidung dem Verdacht auszusetzen, sie werde aus heuchlerischem oder Aufmerksamkeit heischenden Ansinnen getragen: Zumal sie eine Verpflichtung ist! Es erinnert mich ein wenig an die wildesten evangelikalen Vorurteile gegen Katholiken, wenn der Eindruck entsteht, die Kirche würde Priester gleichsam dazu zwingen, Heuchler zu sein. Zur generell falschen Definition von Heuchelei gibt es übrigens hier mehr.
Nun endete die Predigt nicht damit, dass der Priester uns erklärte, wie bescheiden er selber ist. Nein, er musste auch noch deutlich machen, wie unbescheiden andere sind – siehe meine Warnung vom Anfang, dass es sehr schwer ist, nicht selbst zum Heuchler zu werden, wenn man über Heuchelei spricht.
Der Priester bemängelte nun humorvoll auch das Bedürfnis seiner Mitmenschen, ihn als Father anzusprechen. Auch hier ein deutlich protestantischer Einschlag – bibeltreue Christen stellen gern in Frage, warum wir Katholiken Jesus angeblich ignorieren, und Kirchenväter haben, den Papst Vater nennen usw., obwohl wir doch nur einen einzigen Vater haben.
Ihr aber sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder.
Mt 23, 8-9
Auch sollt ihr niemanden auf Erden euren Vater nennen; denn nur einer ist euer Vater, der im Himmel.
Ich frage mich, wie Kinder bibeltreuer Christen ihren – ähm – ja – XY-Chromosom-Elter nennen. Keine Ahnung. Aber das ist ein anderes Thema. Während ich bei der Einlassung über die Priesterkleidung noch die pragmatische Bescheidenheit eines charismatisch-missionarischen Priesters sehen konnte, und seine Einstellung trotz anderer Meinung tolerieren kann, war dann Schluss bei der spöttischen Karikatur der Menschen aus seinem Heimatdorf, inklusive seiner Mutter. Unbedingt wollten diese klerikalen Schafe ihn Father nennen! Er braucht das aber natürlich überhaupt nicht, aber gut, wenn sie unbedingt wollen, sollen sie es halt tun, und die Mutter dürfe ohnehin alles, sie sei ja schließlich seine Mutter. Diese Herablassung gegenüber dem Glaubensvolk bei gleichzeitiger „Leutseligkeit“! Gerade „einfache“ Gläubige haben oft einen sicheren Sinn dafür, dass sie im Priester das Heilige ehren wollen, dem er sich geweiht hat. Es ist ungemein wichtig, dass die Person nicht mit ihrer Funktion verwechselt wird. Aber es ist eben auch die Person, die unersetzliche Person, die zu diesem Dienst „Ja“ sagt. Die Anrede Father drückt unser Vertrauen in den Dienst des Priesters aus. Sie macht die himmlische Familie, der wir angehören, sichtbar. Wir sind eben keine Puritaner. Wir glauben, dass das Göttliche in der Welt sichtbar ist – verschleiert freilich, aber wirklich sichtbar. Der Priester ist kein Hochstapler, der sich eine Anrede anmaßt, die ihm nicht gehört. Er erlaubt, dass man durch ihn Christus sehen kann, und zwar in einer ganz spezifischen Art und Weise – auf andere Weise sehen wir Christus in den Armen, auf andere Weise in in Vater und Mutter, auf wieder andere in einem anderen Getauften; und noch einmal in anderer Weise sieht man ihn in einem gesalbten König. Keine dieser Arten, in denen wir Christus im Andern erblicken, ist gleich und durch die andere ersetzbar. Sie sind jeweils eigen und kostbar, so, wie sie eben sind.
Dass sich der Priester hier über das Verhalten seiner Mitdörfler nicht nur lustig macht, sondern sie auch noch indirekt der Heuchelei beschuldigt – er hat insinuiert, sie würden sich über die Anrede mit ihm schmücken – ist indes nicht besonders vertrauenerweckend. Wie soll ich mich ernstgenommen fühlen von einem Priester, der den Gläubigen einfach Motive unterstellt? Übrigens ist dies für mich gerade auch in seelsorgerlicher Hinsicht eine absolute red flag; und der Priester schien einer zu sein, dem Seelsorge sehr am Herzen liegt. Wenn dies tatsächlich die Einstellung seiner Mitmenschen ist, kann er sie nicht so locker stehen lassen, und woanders darüber spotten. Dann müsste er sie korrigieren. Und zwar nicht, indem er ihnen sagt, dass er diese Anrede nicht braucht. Denn hier geht es eben nicht um ihn. Ob er das braucht oder nicht, ist völlig irrelevant. Relevant ist, dass die Menschen, die ihn Vater nennen, dies mit der richtigen Intention tun, und nicht mit einer, die schon Jesus sehr deutlich verurteilt hat. Das sollte einem Priester doch eigentlich ein wichtiges Anliegen sein, oder nicht?
Ich habe in meinem Leben viele Priester kennengelernt, vor allem junge Priester, die mit Hingabe ihre priesterliche Kleidung tragen. Ihre „Güte“ als Priester musste ich indes nie am Priesterkragen ablesen, weil sie mir die Hingabe an ihren Dienst erwiesen haben: Indem sie ohne zu zögern spontan für eine Beichte bereitstanden, mir geduldig zugehört und guten Rat gegeben haben, weil sie mir ihren Segen erteilt haben. Weil sie von Kaffee bringen bis abspülen nach Aufgaben suchen, um sich zum Diener zu machen. Diese Priester beachten das gesamte Sonntagsevangelium, das mit folgenden Worten schließt:
Der Größte von euch soll euer Diener sein. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.
Mt 23, 11-12
Interessant in diesem Zusammenhang ist die Forderung Jesu, dass die Menschen alles das tun sollen, was die Pharisäer und Schriftgelehrten ihnen sagen. Der Stuhl Moses ist somit eine von Gott gewollte und gegründete Lehrautorität, die der Mensch nicht zu hinterfragen hat. Analog dazu steht in der Gegenwart das Papsttum. Alle Spaltungen innerhalb der Kirche entstanden dadurch, dass die Lehrautorität des Papstes geleugnet und bekämpft wurden.
Ach ja. Ich habe ja keine Predigt dazu gehört, dieses Jahr, aber allgemein will ich ja gerne zugeben, aber ich will es ja gerne zugeben: für mich geradezu meine allererste „Lieber Heiland, was hast Du Dir denn *dabei* bitte gedacht“-Bibelstelle. (Die Frage ist freilich offen.)
Sorry, das wird jetzt etwas ausführlich.
Zuerst: Klar, I get that: Heuchelei ist verkehrt.
Sie ist zwar, wie Chesterton einmal bemerkt hat, die Verbeugung des Lasters vor der Tugend, insofern wäre zumindest ein geheuchelter *normaler Anstand* dem schamlosen *echten* Laster wohl vorzuziehen; aber natürlich ist sie verkehrt. Zum einen ist sie nicht wahrhaftig; warum aber erfüllt sie uns, und erfüllte sie offensichtlich auch den Heiland, mit einer derartigen Abscheu, wie es, sagen wir, die Notlüge, auch wenn sie eigentlich unnötig und egoistisch ist, nicht tut? Eigennützig wie ich bin, sage ich (daß wenigstens ein Teil der Antwort das Folgende ist): *Sie schraubt die Meßlatte zu hoch.*
Von ein paar Leuten abgesehen bemühen wir uns mit mehr oder minder großem Erfolg alle, ein anständiges Leben zu führen, und auch wenn die religiösen Leute sagen, sie vermeiden die Sünden das zur höheren Ehre Gottes, und die philosophisch Gebildeten vielleicht sagen (und eine weit größere Menge diffus fühlen), sie vermeiden die Sünden (oder soweit sie nicht ebenfalls ersteres sind, jedenfalls das, was auch ihr Gewissen für Sünden, mag es auch den Begriff nicht benutzen, hält), weil das an sich richtig ist. Und das ist auch jeweils ernstgemeint. Aber das Zuckerl, das uns im praktischen Alltagsgeschäft dann wie das Leckerli den Hund dazu bringt, bei dem ganzen vielleicht dann doch auch mal etwas Erfolg zu haben, ist natürlich das Lob und Tadel der Mitmenschen und die Gefühle des Geschaffthabens und Versagthabens seitens der eigenen Psyche, und so falsch es wäre, darin das letzte Ende zu sehen, ist das doch auf dem gebührenden Platz gut und richtig so. Gratia supponit naturam, wie immer, und mit Hanuta fängt man Mäuse.
Der Heuchler nun ist der, der *diesen Prozeß sabotiert*.
Es ist ein bedauerlicher Nebeneffekt, wenn der *Heilige* den Normalmenschen beschämt, indem er heiliger ist, insbesondere wenn es gar nicht um Sünde geht, wenn es um Gutes und Nochbesseres geht und der Normalmensch sich in die anscheinend fast nur bei Katholiken (und bei denen auch nur in der Minderheit der Fälle, wo es notwendig wäre) anzutreffende Gelassenheit bei der Unterscheidung dieser beiden Dinge noch nicht hinreichend eingeübt hat. Bedauerlich, aber nicht zu vermeiden, denn der Herrgott ist viel zu köstlich, als daß Ihn der Heilige lassen können würde um der Solidarität damit willen, daß der Normalmensch ein bißchen blöd ist und sich beschämt fühlt.
Soweit also der *Heilige*; aber das, was *der* mit Bedauern in Kauf nimmt um der Wichtigkeit seiner Gottesliebe willen, und durch eigene Demut möglichst abmildert, das strebt der *Heuchler positiv an*.
Und damit setzt er für den, der sich ja auch abmüht, einigermaßen gut zu sein, die gesellschaftliche Meßlatte, die seiner lobenden und tadelnden Mitmenschen und vielleicht noch mehr die von seinem lobenden und tadelnden Über-Ich (um den Ausdruck bei aller gebotenen Vorsicht bei Freud auszuleihen), logischerweise umso höher. Er selber, als Heuchler, dispendiert sich von der Anstrengung, gut zu sein; er scheint aber gut. Der Nichtheuchler, der es einfach nicht hinbekommt, *so gut zu sein, wie der Heuchler zu sein scheint* – aber dafür, daß ihm die Mühe, es zu versuchen, weh tut, dafür reicht es noch – kommt dann demgegenüber ins Hintertreffen, und wenn das ganze bis zu seinem logischen Ende durchexerziert wird (was hoffentlich häufig praktisch ausbleiben wird), dann verzweifelt er am Ende noch daran, jemals gut sein zu können.
– Das ganze ist aber im Detail natürlich schwierig. Insbesondere dürfte es tatsächlich weder verpflichtend noch ratsam sein, den positiven Eindruck, wenn andere einen solchen von uns haben und wir ihn für unverdient halten und er vielleicht tatsächlich in bestimmten Dingen offenkundig unverdient ist, dauernd mit scharfen Worten zu korrigieren.
Szenario: Ein Mensch kommt in a) in eine Gruppe von Freikirchlern und jetzt katholischen Exfreikirchlern und b) in eine Gruppe von Areligösen. Bei beiden ist (und das ist, denke ich, realistisch) das Vorurteil verbreitet, was Msgr. Knox so formuliert: „They just lived in a world where …; just as Protestants nowadays live in a world where it is a matter of course that those who become religious give up the use of strong drink.“ (Trotz des Englischen, weil ich das halt englisch im Ohr habe, kein wörtliches Zitat; ist aber aus „Enthusiasm“ und erklärt im Original, warum die Quäker, denen die Bibel eigentlich wurscht war, weil sie an ein inneres Licht glaubten, trotzdem mit Verweis auf deren Wortlaut sich weigerten Eide zu schwören.) Muß ich dort jetzt, um nicht zu heucheln, so viel Alkohol trinken, wie es mir an sich Spaß machen und ich es in einer Versammlung von Gleichgesinnten würde (*mehr* trinken muß ich ja *nicht*; immerhin *das* sollte ja klar sein, wobei, in der Logik der Geißler angeblicher Heuchelei läge ja genaugenommen sogar auch *das*), oder darf ich, um nicht anzuecken und weil ich auf die die sechsunddreißigste fast-identische Diskussion und Streitgespräche zur Verteidigung des eigenen moralischen Standpunkts, einer gegen zehn, jetzt in diesem Augenblick keine Lust habe, *weniger* als das trinken? Und wenn ich erst das getan habe, darf ich dann nachher in eine Kneipe gehen? Darf ich unter den kritischen Augen von Leuten, die um meine Gesundheit um einiges mehr besorgt sind, als daß ich sie darum gebeten hätte, mich penibel und mühsam am Eßtisch zurückhalten, und mir danach, wenn außer dem Herrgott (und der petzt nicht) keiner zuschaut, einen Döner oder eine Fischkonserve hineinpfeifen, um satt zu werden? Ich würde ja vermutlich behaupten daß ja, aber solche Beispile zeigen dann m. b. M. n. doch, daß das ganze Thema im ganzen nicht einfach ist.
(Darf man wie ein Amerikaner die Equivokation benutzen „I do not drink“ mit dem unausgesprochenen Nachsatz „that is to say, not if the verb ‚to drink‘ means ‚to be an alcoholic‘; otherwise, I do drink, I just don’t believe it’s an addiction, nor usually to excess” gebrauchen? Bei mir als Deutschem schreit das Bauchgefühl mit Donnerstimme „nein, natürlich nicht, selbst wenn das vielleicht der Bezeichnung ‚Lüge‘ noch knapp auskommen sollte, heuchlerisch ist es auf jeden Fall!“, aber wie wäre die *objektive* Antwort?)
Detailfragen aside: Heuchelei ist böse. War zwar überflüssig wie ein Kropf, das zu belegen (ich habe ja gar nicht unterstellt, daß das irgendjemand bestritte), aber gut. Wieso habe ich trotzdem dieses „Lieber Heiland, was hast Du Dir denn mit diesem Evangelium gedacht“-Gefühl? Dazu später mehr.
Also: Unser Heiland wendet sich mit scharfen Worten gegen die Heuchelei, und das ist nicht nur richtig weil eh klar, sondern auch gut so. Auch, damit wir es nicht ganz so schwer haben, immer gegenüber dem Heuchler ins Hintertreffen zu geraten.
Aber mußte Er denn wirklich in *so* einer Schärfe darauf hinweisen, daß wir uns schon bei der ohne jede übernatürliche Ebene nützlichen Wohltat am nächsten, wenn wir denn doch mal eine tun, vollends aber bei der innerweltlich sinnlosen religiösen Tat, wenn wir denn doch mal eine tun, genauso vorkommen wie der äußerlich brave Bub (wobei „brav“ hier den meint, der solche extravaganten, applauserhalt-gefährlichen Dinge gerade *nicht* tut, etwas verzwickt aber ja mei), der im Schutz des Gebüschs heimlich eine raucht? Oder, vielleicht etwas genauer, wie der interessierte Schüler, der neugierig den als Lektüre ausgegebenen „Krabat“ schon mal bis Kapitel 33 durchliest (soviele Kapitel hat das Buch), weil er wissen will, wie die Geschichte weitergeht, statt brav nach Kapitel 2 aufzuhören, wie es der Lehrer aufgegeben hat, damit in der nächsten Deutschstunde alle auf dem gleichen Stand sind? Und was sollen wir denn nun tun, heißt es Christus verleugnen, wenn wir nicht sagen, daß wir am Sonntag in der Messe waren, oder heißt es, wie die Heuchler beim Gebet in der Synagoge, d. h. der Kirche stehen (vgl. Mt 6,5), wenn wir es tun? Und was, wenn man eigentlich „aber dabei bin ich leider notorisch unpünktlich“ anfügen müssten? Und was ist dann gar mit so Geschichten wie der Werktagsmesse oder der Anbetung? Dürfen wir *davon* reden? Mal angenommen, wir sind keine Skrupulanten und haben schon begriffen, ja, wir *dürfen* in die Kirche gehen, um zu beten… da ist der Herr im Allerheiligsten, und außerdem ist eh kaum einer da, der uns sieht, abgesehen dann und wann von Leuten, die *auch* aufpassen müssen, dass sie ja nicht angeben damit… aber was ist denn dann mit den von Herrn angesprochenen Straßenecken? Die Kirchen sperren irgendwann zu, und nicht jeder kommt gerade schnell heim aufs Klo, wenn er sich denkt, heute sollte noch dieser eine Rosenkranz gebetet werden. Wenn er denn alleine wohnt. Sich auf dem Klo einsperren fällt irgendwann auch auf. Und sich im Gebüsch verkriechen ist ja eine feine Sache, solange man nicht entdeckt wird, aber *wenn* man entdeckt wird, dann wird es *sehr* creepy in der Stadt, und das will man dann vielleicht auch nicht.
(Wenn übrigens ein Mitleser meint, ich übertreibe, das seien Dinge, die sich jemand vielleicht theoretisch denken könnte, aber doch wohl kaum jemand tatsächlich denkt: Nun, ein bißchen übertreibe ich natürlich wirklich, das dient der Zuspitzung, aber die Übertreibung hat ein deutlich festeres Standbein in der Realität, als Sie jetzt vielleicht annehmen. Isso.)
Und dann: Wenn wir den Text auf uns beziehen sollen, wieso dann bitte die Warnung, daß der, vor der er uns wart der zu sein, *alles*, was er tut, tue, um von den Menschen gesehen zu werden? Meint der wirklich *gar* nichts ernst? Meinten die Pharisäer der Zeit Christ for that matter, irrig und engstirnig wie sie teilweise waren, wirklich *gar* nichts ernst? Wenn aber nicht, wenn Christus (z. B.) meint, daß mit allem (oder vielleicht auch nur mit dem allermeisten) was sie tun, schon auch irgendwo Gott ehren wollen, aber natürlich *auch* gerne von den Menschen gesehen werden: Trifft das denn dann nicht doch auch auf uns zu, und ist es denn wirklich so schlimm? Natürlich ist es schon auch ein Zweck von „Deutschland betet Rosenkranz“ oder „40 Tage für das Leben“, daß man (nicht der einzelne, aber die Gruppe als solche) gesehen wird. Ein Zweck, der für die Beteiligten ein mittleres (in ersterem Fall) oder großes (in letzterem) Opfer ist, klar, nicht die Erwartung eines Ehrenplatzes beim Gastmahl, und auch tatsächlich ein untergeordneter Nebenzweck; das aber eben schon, und eben: gesehen werden?
Die Irreligiösen haben kein Problem damit, für das, was Sie für richtig halten, öffentlich einstehen; oder wenndann nur die klassische Menschenfurcht. Wieso werden wir zusätzlich zur Menschenfurcht, die wir natürlich auch haben, noch zusätzlich den Klotz ans Bein, daß wir in unserem Einstehen für das, was wir für richtig und dabei am wesentlichsten halten und daß das auch ist, auch noch durch ewiges Secondguessing unserer eigenen Motive abgehalten werden und selbst dann, wenn wir diese dreimal geprüft haben und festgestellt haben, sie sind okay, dann wenigstens unsere Begeisterung nur mit der angezogenen Handbremse zeigen dürfen?
Und um das Einschärfen, wird dann nicht nur der Titel „Meister“ verboten, sondern auch „Lehrer“ und das, was jedes Kind seinen Papa nennt, so daß selbst die Erklärung „der übertragene Gebrauch ist gemeint“ schon eine beschwichtigende Auslegung ist. Aber das haut mit dem Herrn Pater, den Vätern-des-Grundgesetzes, dem Heiligen Vater, dem Ehrwürdigen Vater (der Karthäuser), dem Titel Papst, dem Titel Abt, dem Landesvater, dem Paten usw. immer noch nicht hin. Nun, wir können z. B. aus den Paulusbriefen beweisen, daß Paulus sich als Vater der durch seine Mission gegründeten Gemeinden gesehen und das auch laut gesagt hat; das, und die Kirchenväter, und die Praxis der Kirche, *beweisen*, daß der Heiland es nicht so gemeint hat; *beweisen* kann man das, schon klar, um ja nicht falsch verstanden zu werden (und wie gesagt, der eigentliche Ausdruck von dem linguistisch, wenn auch nach Eph 3,15 nicht ontologisch, der Begriff „Vater“ herkommt wäre damit wörtlich ja genauso getroffen); aber das ändert nichts daran, daß man es erst beweisen *muß*. Was beabsichtigt der Heiland damit, uns Befehle zugeben, die wir dem Sinn nach erfüllen sollen, aber nicht wörtlich? Und was hat Er in diesem Fall hiermit verdeutlichen wollen, weswegen Er diese Detailanweisung nicht einfach weggelassen hat? Daß wir uns Verdienste erwerben, weil die Protestanten und in ihrem Gefolge auch die bisweilen ebenfalls bibellesenden Glaubensfeinde zusätzliche Mittel haben, uns zu beschimpfen? Daß wir auch Ihn selber nicht immer buchstäblich nehmen dürfen?
Aber ja, ich gebe zu, das ganze ist Bias von einem, der 1. im Religionsunterricht einen teilweise schwerwiegenden Fokus auf die Schlechtigkeit des nach außen hin guten und die Gutheit des scheinbar schlechten Menschen abbekommen hat (was letztlich dann doch wenigstens besser ist wie explizit andersherum) und 2. keine Gegenbalance durch Aufwachsen in mit dem Gestus der Selbstverständlichkeit vollzogene auch öffentliche religiöse Übungen hatte und 3. leider einiges an religiöser Bildung durch eigene Lektüre und das Aufschnappen beim Sonntagsevangelium mitbekommen mußte, wobei ich (trotz einigen allerdings sehr schönen Ausnahmen) nicht allgemein darauf vertrauen konnte, daß die Ausleger keine Beschwichtiger waren… („Aber momentmal, sagt Christus nicht, man solle siebenundsiebzigmal vergeben? – Naja, das wäre respektabel so ganz kann man das ja nicht hinbekommen…“)
Aber ganz ernsthaft, hat jemand (die Frage ist nicht rhetorisch) eine Ahnung, warum nicht nur die (Wort ist neutral gemeint:) beschwichtigende Erklärung der Kirchenväter, der Apologeten und aus der Praxis der Kirche richtig ist – *das* weiß ich jetzt, zumindest wenn wir vom Bauchgefühl schweigen – sondern warum diese Mahnung so dasteht, daß solche Beschwichtigungen *nötig* würden?
Herr, erbarme Dich meiner.
„Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn mein Königtum von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde. Nun aber ist mein Königtum nicht von hier.“
Vielleicht können wir uns so der Frage nach dem Sinn der o.g. Bibelstelle nähern.
Den Zusammenhang sehe ich so nicht.
Nun, wie wahrscheinlich zuallermeist ist mindestens ein Teil der Antwort auf die Frage nach schwierigen Bibelstellen: Weiterlesen!
Schon die Perikope im neuen Ritus gönnt uns ja immerhin den krönenden Abschluß „Der Größte von euch soll euer Diener sein. Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“ So far so good; das klingt doch schon einmal besser. Es läßt denken an je erstaunlich lebenspraktische Anweisung in Lukas 14,7ff.: Der Evangelist nennt das mit inspiriertem Wort ein Gleichnis, weswegen wir beim erwähnten Hochzeitsmahl natürlich an das Himmelreich denken, aber die regelmäßigen Einwürfe der Ausleger, Er würde hier „selbstverständlich“ keinen bauernschlau-pragmatischen Knigge für die konkrete Situation daß ein Mensch auf ein Festmahl eingeladen wird, wo er dann mit jeder Menge „nach ihnen“ und demütigem Understatement daherkommt mit der gar nicht einmal wirklich bestrittenen Absicht der Komplimentefischerei hertritt und dann in der Tat sagen könnte, er folge nur dem Ratschlag des Heilands. Warum eigentlich nicht? Verdemütigung ist insbesondere auch kluge gesellschaftliche Taktik; macht sie das irgendwie unrein? Sollten wir, für eine Tugend auf dem Fuß folgend belohnt zu werden, nicht sogar für den (nicht ausnahmslosen) Normalfall halten? Und kann es nicht wirklich sein, daß „mit Bedauern stelle erkläre ich Dero königliche Hoheit, gebietendste Großherzogin von Toskana, ob der von Dero Königlicher Hoheit zu Unrecht erhobenen Ansprüche auf die Königreiche Ungarn und Böhmen und das Erzherzogtum Österreich nebst deren Nebenlande den Krieg und verbleibe wie immer Dero königlicher Hoheit stets ergebenster Diener“ (natürlich hat Maria Theresia diese Ansprüche *zu Recht* erhoben, aber so hätten es ihre Gegner nunmal formuliert) tatsächlich, so unverständlich es uns sein mag, auf einem höheren Niveau als der Stolz eines C. Julius Caesar oder eines Akteurs der germanischen Heldensage, geschweigedenn die kriegserklärungslosen Überfälle der gegenwärtigen Zeit?
Ich bin etwas abgeschwiffen. Aber ja, der Heiland mahnt zwar zu seiner Zeit schon „die Mächtigen lassen sich Wohltäter nennen“ (man könnte, Er hätte wohl nichts dagegen, sagen: „immerhin!“; wer sich Wohltäter nennen läßt, muß gelegentlich etwas tun, was mindestens den Anschein von Wohltaten erweckt), aber eine Zeit, in der das sichtbare Oberhaupt der Kirche und auch der christlichen Zivilisation, das sich im Prinzip auch berechtigt fühlt, nicht nur den Bischöfen, sondern prinzipiell auch den Fürsten Befehle zu erteilen (im Rahmen der kirchlichen Sphäre, aber mit der Kompetenzkompetenz zu entscheiden, wo diese endet) und auch auf dieser weltlichen Ebene einen eigenen souveränen Staat als (in der Theorie zumindest) absoluter Monarch zu regieren, als „Diener der Diener Gottes“ betitelt, hat es vorher in der Tat noch nicht gegeben. Und ohne hier vorschnell Heuchelei unterstellen zu wollen, gilt ja bei aller berechtigten Warnung vor dem Stolz auf die Demut: Das ist doch schonmal was.
Wir haben recht wenig Erfahrung mit nicht demütig formulierten Titeln. Auch die riesige Aufzählung von Ländereien im Großen Titel des Kaisers von Österreich ist das recht verstanden nicht, denn er verweist auf die Selbständigkeit all dieser Länder. Wie ein *nicht* demütiger Titel aussieht? Zum Beispiel so: „Seine Exzellenz, Präsident auf Lebenszeit, Feldmarschall Hāddsch Doktor Idi Amin Dada, Viktoria-Kreuz, Orden für hervorragenden Dienst, Militärkreuz, Herr aller Tiere der Erde und aller Fische der Meere und Bezwinger des Britischen Weltreichs in Afrika im Allgemeinen und in Uganda im Besonderen.“ Die römischen Kaisertitulaturen wimmelten nur so von „Sohn des Vergöttlichten“ usw. Daß wir mit so etwas wenig Erfahrung haben, heißt nicht, daß die Verurteilungen des Herrn auf einmal die Dinge treffen, mit *denen* wir Erfahrungen haben. Dann und wann kann die jahrhundertelange Wühlarbeit der Christenheit doch sogar im Diesseits schon etwas verbessert haben.
Zurück zum Bibeltext. „Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“ Woran denken wir da? Genau.
Und „ich bin die (!) Magd des Herrn“ und „von nun an preisen mich selig alle Geschlechter“ klingt nun nicht gerade nach dem, was Otto Normalmoralprediger sich so unter Bescheidenheit vorstellt. (Werfe ich der Allerseligsten Jungfrau damit eine läßliche Sünde vor? Das sei ferne! Ich werfe Otto Normalmoralprediger, insbesondere wo er gar keine reale Person, sondern eine bestimmte Abteilung des, um den Ausdruck hier erneut zu gebrauchen, Überichs ist, seine falschen Maßstäbe vor.)
Es kommt aber noch besser.
Denn unmittelbar *nach* der Perikope kommt das, was die Liturgiereformer offensichtlich für so hart befunden haben, daß sie es dem Kirchenvolk ersparen wollten (hier bricht die Bahnlesung ab). Aber es *ist* gar nicht der harte Teil. Es wäre der Teil, der diese bis dahin dann doch recht schwere und auch beim Ende doch im wesentlichen einen moralischen Anspruch (sicherlich zu Recht, aber auch ein zu Recht bestehender moralischer Anspruch ist ein moralischer Anspruch) an uns stellende Bibelstelle dann nämlich wieder abgefedert hätte. So nämlich, dies folgt unmittelbar:
„Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr verschließt den Menschen das Himmelreich. Denn ihr selbst geht nicht hinein und lasst die nicht hinein, die hineingehen wollen Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Denn ihr fresst die Häuser der Witwen auf und verrichtet in eurer Scheinheiligkeit lange Gebete. Deshalb wird das Urteil, das euch erwartet, umso härter sein. Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr zieht über Land und Meer, um einen einzigen Menschen für euren Glauben zu gewinnen; und wenn er gewonnen ist, dann macht ihr ihn zu einem Sohn der Hölle, doppelt so schlimm wie ihr selbst. Weh euch, ihr seid blinde Führer! Ihr sagt: Wenn einer beim Tempel schwört, gilt es nicht, wenn er aber beim Gold des Tempels schwört, gilt es. Ihr blinden Narren! Was ist wichtiger: das Gold oder der Tempel, der das Gold erst heilig macht? Auch sagt ihr: Wenn einer beim Altar schwört, gilt es nicht, wenn er aber bei dem Opfer schwört, das auf dem Altar liegt, gilt es. Ihr Blinden! Was ist wichtiger: das Opfer oder der Altar, der das Opfer erst heilig macht? Wer beim Altar schwört, der schwört bei ihm und bei allem, was darauf liegt. Und wer beim Tempel schwört, der schwört bei ihm und bei dem, der darin wohnt. Und wer beim Himmel schwört, der schwört beim Thron Gottes und bei dem, der darauf sitzt. Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr gebt den Zehnten von Minze, Dill und Kümmel und lasst das Wichtigste im Gesetz außer Acht: Recht, Barmherzigkeit und Treue. Man muss das eine tun, ohne das andere zu lassen. Blinde Führer seid ihr: Ihr siebt die Mücke aus und verschluckt das Kamel. Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr haltet Becher und Schüsseln außen sauber, innen aber sind sie voll von Raffsucht und Gier. Du blinder Pharisäer! Mach den Becher zuerst innen sauber, dann ist er auch außen rein. Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr seid wie getünchte Gräber, die von außen schön aussehen, innen aber voll sind von Knochen der Toten und aller Unreinheit. So erscheint auch ihr von außen den Menschen gerecht, innen aber seid ihr voll Heuchelei und Gesetzlosigkeit. Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr errichtet den Propheten Grabstätten und schmückt die Denkmäler der Gerechten und sagt dabei: Wenn wir in den Tagen unserer Väter gelebt hätten, wären wir nicht wie sie am Blut der Propheten schuldig geworden. Damit bestätigt ihr selbst, dass ihr die Söhne der Prophetenmörder seid. Macht nur das Maß eurer Väter voll! Ihr Nattern, ihr Schlangenbrut! Wie wollt ihr dem Strafgericht der Hölle entrinnen? Darum siehe, ich sende Propheten, Weise und Schriftgelehrte zu euch; ihr aber werdet einige von ihnen töten und kreuzigen, andere in euren Synagogen auspeitschen und von Stadt zu Stadt verfolgen. So wird all das unschuldige Blut über euch kommen, das auf Erden vergossen worden ist, vom Blut Abels, des Gerechten, bis zum Blut des Zacharias, Barachias Sohn, den ihr zwischen dem Tempelgebäude und dem Altar ermordet habt. Amen, ich sage euch: Das alles wird über diese Generation kommen. Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die zu dir gesandt sind. Wie oft wollte ich deine Kinder sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt; aber *ihr habt nicht gewollt*. Siehe, euer Haus wird euch öde gelassen. Und ich sage euch: Von jetzt an werdet ihr mich nicht mehr sehen, bis ihr ruft: Gepriesen sei er, der kommt im Namen des Herrn!“
So, da wären wir. Und *da* endet das Kapitel, und die betreffende Rede Christi, wie sie der Evangelist aufgezeichnet hat.
Der Heiland hat gegen die Pharisäer eine ganze Reihe von ganz konkreten Vorwürfen; und das sind bei aller Selbstkritik solche, von denen die *meisten* uns dann doch *nicht* treffen. Und selbst *da* besteht Seine Strafe im wesentlichen darin, daß sie Ihn *fürs erste* nicht sehen; sie, selbst gerade diese heuchlerischen Pharisäer!, werden ihm aber eines Tages das Benedictus qui venit singen. Wow.
Diese Vorwürfe bestehen übrigens auch nicht in „übertriebener Gesetzestreue“. Man „soll das eine tun und das andere nicht lassen“.
Wie übrigens *soll* sich der Mensch denn nun verhalten zu den Verbrechen der Vorfahren? Das ist ja vielleicht der Vorwurf, der den Menschen, gerade den Deutschen, am ehesten *doch* trifft. Anzunehmendermaßen mit „the same blood flows in my veins“ (ja, der *wirkliche* Aragorn ist im wesentlichen *stolz* auf seinen Vorfahren Isildur und hat dazu auch Grund, aber soll ich deswegen die Anspielung auslassen?). „Ich hoffe und will mir Mühe geben, in ähnlicher Lage besser zu entscheiden, aber bis jetzt wurde das noch nicht auf die Probe gestellt, und dafür bin ich auch recht dankbar“. Tja: der entscheidende Fehler des anderen Pharisäers, dessen in dem Gleichnis mit dem Zöllner, war wohl tatsächlich, daß er zwischen den Worten „daß ich nicht so bin wie“ und „anderen Menschen“ nur das Wort „die“ eingefügt hat. Und nicht „meinem dann wahrscheinlich doch wohl zutreffenden Urteil über den Anschein doch recht viele der“. *Das* wäre dann vielleicht *wirklich* ein frommes Gebet gewesen, insbesondere mit dem Nachsatz „und wenn ich jetzt stehe, dann gib mir auch bitte die Gnade, zukünftig nicht zu fallen“…
Und von hier aus zurück zu den Vorwürfen an die Katholiken? Warum sollen wir uns nicht Vater nennen lassen?
Das ist erstmal ein Nachklapp dazu, sich nicht Rabbi nennen zu lassen.
Und wer soll das nicht tun? Die Schriftgelehrten und Pharisäer. Das sind aber, moment mal, doch genau die, von denen der Heiland selbst gerade anerkannt hat, daß sie (damals noch) „auf dem Stuhl des Mose sitzen“ und von denen man das tatsächlich (in einem gegenüber ihrem Tun und den von ihnen geschnürten Lasten, womit doch wohl Lehrvorschriften gemeint sind, hier nicht genau zu untersuchenden Sinn) das befolgen soll, was sie sagen. Wenn aber das, warum sie dann nicht auch Meister nennen?
In demselben Sinn, in dem man auch niemand Vater nennen soll. Denn Vater ist Gott allein. Wohlgemerkt nicht: „der *eigentlich* das biologische männliche Elternteil bezeichnende Ausdruck ‚Vater‘ darf als *metaphorischer* nur in bezug auf Gott gebraucht werden“, nein, *Vater* ist Gott allein. Ex quo omnis paternitas in coelo et in terra nominatur. *Das heißt offensichtlich nicht*, daß man das, was dann nur noch ein zufälliger Zusammenfall von Lauten wäre, nur für Gott gebrauchen dürfte, denn *sprachlich* kommt das Wort ja offensichtlich vom biologischen Elternteil. Was Christus hier (und jedenfalls definitiv Paulus im Epheserbrief, der Epistel von Herz Jesu) sagt, ist, daß diese menschliche Vaterschaft eine Metapher für die Gottes ist und nicht etwa umgekehrt; und tatsächlich wird man Paulus als inspirierten Ausleger dieses Herrenwortes verstehen dürfen. Daraus folgt aber logisch, daß es tatsächlich notwendig war gegeben zu werden; und ebenfalls, daß es natürlich ebensowenig verkehrt ist, außer dem biologischen Vater auch andere, auf die die Metapher „Vater“ zutrifft, ebenso zu benennen. Christus selbst heißt es ja durchaus gut, wenn Leute „unser Vater Abraham“ sagen (auch wenn Er ihnen dann manchmal die moralische Berechtigung bestreitet das zu tun; genau das heißt es ja, wie das zu verstehen ist).
In dem gleichen Sinn wie „Vater“, aber eben nur in diesem, darf sich dann ein Mensch auch „Meister“, „Lehrer“ usw. nennen. Anders als m. E. das Weglassen der Weherufe war der Einfall der Liturgiereformer, „Ihr sollt euch nicht Lehrer nennen lassen“ ausgerechnet zur Perikope der Kirchenlehrerfeste zu machen, also *tatsächlich* nicht ganz unberechtigt (wenn auch etwas zu intellektuell und kein Grund, von „Ihr seid das Salz der Erde“ abzusehen, aber gut).
Und dann hat er hier natürlich auch die Lehrer erwähnt, denn (das „denn“ ist Spekulation, der Rest ist sicher) Er wußte ja schon, daß zu biblischen Zeiten die „Ältesten“ (presbyteri… Priester), trotz der Ähnlichkeit des Konzepts, noch nicht Väter genannt werden würden, aber es einen Stand von *Lehrern* eben *schon* geben würde (1 Kor 12,28 usw.). Er hat netterweise den Begriff „Lehrer“ scheinbar verboten, damit (das „damit“ ist Spekulation, der Rest ist sicher) die Protestanten keinen Grund legitimen haben, uns den Begriff „Vater“ vorzuhalten, denn „Lehrer“ ist biblisch nachweislich okay, wird aber in derselben Rede genau gleich zu „Vater“ behandelt. Ist Er nicht genial?
Herr, ich danke Dir dafür, diese Bibelstelle jetzt, wie ich meine, besser verstehen zu dürfen. Nie kann, o Herr, ich danken Dir genug etc. Ehre sei. Nos cum.
Übrigens sage ich normalerweise zwar immer, daß es zwar die Abschaffung der alten Sonntage nicht wert war, die Liturgiereformer bei der Auswahl zugehöriger alttestamentlicher Stellen und teilweise Episteln zu den bahngelesenen Sonntagsevangelien einen guten Job gemacht haben.
Der fragliche Sonntag ist aber eine tendenziöse Ausnahme.
Die Bibel enthält mit Recht Scheltreden gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten, wie wir gesehen haben. Sie enthält auch mit Recht Scheltreden gegen die Priester und Leviten des Jerusalemer Tempels; auch bei Christus selbst (man kann logischerweise so etwas z. B. aus dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter herausdeuten, auch wenn ich die meines Wissens klassische Deutung, damit sei die primär die Nichtausreichendheit des nursymbolischen alten Kults, gegenüber den das Heil, das sie vermitteln, auch beinhaltenden Sakramenten des Neuen Bundes gemeint, nicht vorschnell beiseitewischen würde).
Aber die eine als Hinführung auf die anderen nehmen? „Jetzt gilt dieses Gebot für euch, ihr Priester: Wenn ihr nicht hört[…] dann schleudere ich meinen Fluch gegen euch. Ihr seid abgewichen vom Weg,“?
Das läßt bei genauem Hinsehen dann doch auf die teils säkulare, teils protestantische Kritik an ausgeübter Religion denken, die die Kleriker und die Frommen alle in einen Topf wirft und der, wenn sie ehrlich ist, es eigentlich am rechtesten wäre, wenn sie das religiöse Praktizieren als unnütz ganz bleiben ließen und allenfalls für die eigene Anstachelung gelegentlich moralische Adhortationsreden anhören würden.
Es fällt uns nur vielleicht nicht auf, weil wir die Verhältnisse dann doch nicht ganz genau kennen. Die Renaissance ist etwas näher an uns, versetzen wir uns also mal in diese Zeit und nehmen ferner an, zu diesem Zeitpunkt sei der Franziskanerorden und auch der Dominikanerorden total korrupt gewesen (das ist eine Annahme, den historischen Orden werfe ich das nicht vor“.
Stellen wir uns also vor, aus dieser Zeit wäre ein prophetisches Wort überliefert: „Weh über euch, ihr Franziskaner und Dominikaner!“ — Und nun kommt jemand ernsthaft auf den Gedanken, als Hinführung und Ausdeutung diesem ein älteres prophetisches Wort voranzustellen: „Jetzt gilt dieses Gebot für euch, ihr Kardinäle! Ihr seid abgewichen vom Weg!“
*Das* wäre, in etwa, die Entsprechung dessen, den Weherufen über Pharisäer (eine religiöse Laienbewegung mit dem Kernelement des Sich-aus-der-unreinen-Welt-Zurückziehen) und Schriftgelehrten (ebenfalls Laien, die die Schrift studiert haben, wie der Name sagt; anzunehmendermaßen um sie dann auch zu vermitteln) ein Drohwort gegen den ideologisch meistens (nämlich soweit es sich um Sadduzäer handelte) sogar scharf verfeindeten Jerusalemer Tempelklerus als Parallelstelle voranzustellen.